Der Untergang des Abendlandes
Notwendigkeit reden, da sie eine Forderung aller exakten Forschung ist, so liegt eine doppelte vor: eine Notwendigkeit im Seelischen und Lebendigen, denn es ist Schicksal, ob, wann und wie sich die Geschichte jeder einzelnen Forschung abspielt; und eine Notwendigkeit innerhalb des Erkannten für die uns Westeuropäern der Name
Kausalität
geläufig ist. Mögen die reinen Zahlen einer physischen Formel eine kausale Notwendigkeit darstellen; das Vorhandensein, die Entstehung, die Lebensdauer einer Theorie ist ein Schicksal.
Jede Tatsache, selbst die einfachste, enthält bereits eine Theorie. Eine Tatsache ist ein einmaliger Eindruck auf ein wachendes Wesen, und alles hängt davon ab, ob es ein Mensch der Antike oder des Abendlandes, der Gotik oder des Barock ist, für den sie da ist oder da war. Man überlege sich, wie ein Blitz auf einen Sperling oder auf einen gerade beobachtenden Naturforscher wirkt, und was in der »Tatsache« für diesen mehr enthalten ist als in der »Tatsache« für jenen. Der Physiker von heute vergißt zu leicht, daß schon Worte wie Größe, Lage, Prozeß, Zustandsänderung, Körper spezifisch abendländische Bilder darstellen, mit einem in Worte nicht mehr zu fassenden Bedeutungsgefühl, das dem antiken oder arabischen Denken und Fühlen gänzlich fremd ist, das aber den Charakter der wissenschaftlichen Tatsachen als solcher, die Art des Erkanntwerdens vollkommen beherrscht, ganz zu schweigen von so verwickelten Begriffen wie Arbeit, Spannung, Wirkungsquantum, Wärmemenge, Wahrscheinlichkeit, [Etwa im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik in der Fassung Boltzmanns: »Der Logarithmus der Wahrscheinlichkeit eines Zustandes ist proportional der Entropie dieses Zustandes.« Hier enthält jedes Wort eine vollständige und nur nach
zufühlende
, nicht zu beschreibende Naturanschauung.] welche jeder für sich einen wirklichen Natur
mythos
enthalten. Wir empfinden derartige gedankliche Bildungen als Resultat einer vorurteilsfreien Forschung, unter Umständen als endgültige. Ein feiner Kopf aus der Zeit des Archimedes würde nach gründlichem Studium der modernen theoretischen Physik versichert haben, es sei ihm unbegreiflich, wie jemand so willkürliche, groteske und verworrene Vorstellungen als Wissenschaft und noch dazu als notwendige Folgerungen aus den vorliegenden Tatsachen ansprechen könne. Wissenschaftlich gerechtfertigte Folgerungen seien viel mehr – und er würde seinerseits auf Grund derselben »Tatsachen«, der mit seinem Auge gesehenen und in seinem Geist gestalteten Tatsachen nämlich, Theorien entwickelt haben, denen unsre Physiker mit erstauntem Lächeln zugehört hätten.
Welches sind denn die Grundvorstellungen, die sich im Gesamtbilde der heutigen Physik mit innerer Folgerichtigkeit entwickelt haben? Polarisierte Lichtstrahlen, wandernde Ionen, die fliehenden und geschleuderten Gasteilchen der kinetischen Gastheorie, magnetische Kraftfelder, elektrische Ströme und Wellen – sind das nicht sämtlich faustische Visionen, faustische Symbole von engster Verwandtschaft mit der romanischen Ornamentik, dem Hinaufstreben gotischer Bauten, den Wikingerfahrten in unbekannte Meere und der Sehnsucht des Kolumbus und Kopernikus? Ist diese Formen- und Bilderwelt nicht in genauem Einklang mit den gleichzeitigen Künsten, der perspektivischen Ölmalerei und der Instrumentalmusik erwachsen? Ist das nicht unser leidenschaftliches Gerichtetsein, das Pathos der dritten Dimension, das wie im Seelenbilde, so auch im vorgestellten Bilde der Natur zu symbolischem Ausdruck gelangt ist?
2
Daraus ergibt sich, daß allem »Wissen« von der Natur, auch dem exaktesten, ein religiöser Glaube zugrunde liegt. Die reine Mechanik, auf welche die Natur zurückzuführen die abendländische Physik als ihr Endziel bezeichnet, ein Ziel, dem diese Bildersprache dient, setzt ein
Dogma
, nämlich das religiöse Weltbild der gotischen Jahrhunderte voraus, durch welches sie geistiges Eigentum der abendländischen Kulturmenschheit und nur dieser ist. Es gibt keine Wissenschaft ohne unbewußte Voraussetzungen solcher Art, über welche der Forscher keine Macht besitzt, und zwar Voraussetzungen, welche sich bis in die frühesten Tage der erwachenden Kultur zurückführen lassen.
Es gibt keine Naturwissenschaft ohne eine voraufgegangene Religion.
In diesem Punkte besteht kein Unterschied zwischen katholischer und materialistischer Naturanschauung: sie sagen beide dasselbe mit andern Worten. Auch die atheistische
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