Der Untergang des Abendlandes
den optisch gegebenen Fällen das Sinnlich-zufällige absondern, um das Gedanklich-Prinzipielle zu finden: die
reine
Form des Gegenstandes, den
reinen
Typus der Lage, die
reine
Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Da das antike Leben in der Gestalt, wie es sich dem antiken kritischen Wachsein darstellt, durchaus euklidische Züge besitzt, so entsteht ein Bild von Körpern, von Lageverhältnissen zwischen ihnen und von wechselseitigen Einwirkungen durch Stoß und Gegenstoß wie bei den Atomen Demokrits.
Es ist eine juristische Statik.
[Das ägyptische Recht der Hyksoszeit, das chinesische der »Zeit der kämpfenden Staaten« müssen im Gegensatz zum antiken Recht und dem indischen der Darmasutras auf ganz andern Grundbegriffen als denen der körperlichen Personen und Sachen aufgebaut gewesen sein. Es wäre eine große Befreiung vom Drucke der römischen »Altertümer«, wenn es der deutschen Forschung gelänge, sie festzustellen.]
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Die erste Schöpfung des arabischen Rechts war
der Begriff der nichtkörperlichen Person.
Um diese für das neue Weltgefühl so bezeichnende Größe ganz zu würdigen, die im echt antiken Recht fehlt [Sohm, S. 220.] und bei den »klassischen« Juristen, die sämtlich Aramäer waren, plötzlich da ist, muß man den wahren Umfang des arabischen Rechts kennen.
Die neue Landschaft umfaßt Syrien und das nördliche Mesopotamien, Südarabien und Byzanz. Hier ist überall ein neues Recht im Werden, mündliches oder geschriebenes Gewohnheitsrecht frühen Stils, wie wir es aus dem Sachsenspiegel kennen. Und da ergibt sich etwas Erstaunliches: aus dem
Recht einzelner Stadtstaaten
, wie es auf antikem Boden selbstverständlich war, ist hier in aller Stille das
Recht von Glaubensgemeinschaften
geworden. Das ist ganz magisch. Es ist stets ein
pneuma
, ein gleicher Geist, ein identisches Wissen und Verstehen der alleinigen Wahrheit, welches die Bekenner derselben Religion jedesmal zur Einheit des Wollens und Handelns,
zu einer juristischen Person
zusammenfaßt. Eine juristische Person ist also ein kollektives Wesen, das als Ganzes Absichten hat, Entschlüsse faßt und Verantwortungen trägt. Der Begriff gilt schon, wenn man das Christentum betrachtet, von der Urgemeinde in Jerusalem [Apostelgeschichte 15; hier liegt die Wurzel des Begriffs von einem Kirchenrecht.] und reicht hinauf bis zur Dreieinigkeit der göttlichen Personen. [Der Islam als Jurist. Person: M. Horten, Die religiöse Gedankenwelt des Volkes im heutigen Islam (1917), S. XXIV.]
Schon das spätantike Recht der kaiserlichen Erlasse vor Konstantin (
constitutiones, placita
) gilt, obwohl die römische Form des Stadtrechts streng gewahrt wird, ganz eigentlich
für die Gläubigen der »synkretistischen Kirche«
[Vgl. Bd. II, S. 799ff. Der Ausdruck kann gewagt werden, weil die Anhänger aller spätantiken Kulte durch ein frommes Gemeingefühl ebenso zusammengehalten wurden wie die christlichen Einzelgemeinden.] jener Masse von Kulten, die alle von derselben Religiosität durchdrungen sind. Während im damaligen Rom das Recht von einem großen Teil der Bevölkerung sicher noch als das Recht eines Stadtstaates empfunden wurde, verlor sich das Gefühl mit jedem Schritt nach Osten. Die Zusammenfassung der Gläubigen zu einer
Rechtsgemeinschaft
geschah in aller Form durch den Kaiserkult, der durchaus göttliches Recht war. In bezug auf ihn haben sich Juden und Christen – die persische Kirche ist nur in der antiken Form des Mithraskultus und also im Rahmen des Synkretismus auf antikem Boden erschienen – als Ungläubige eigenen Rechts in einem fremden Rechtsgebiet eingenistet. Als der Aramäer Caracalla 212 durch die
constitutio Antonina
[R. v. Mayr III, S. 38. Wenger, S. 193.] allen Bewohnern außer den
dediticii
das Bürgerrecht gab, war die Form dieses Aktes echt antik, und es gab zweifellos viele Menschen, die sie so verstanden. Die Stadt Rom hatte damit die Bürger aller andern sich buchstäblich »einverleibt«. Der Kaiser selbst aber empfand ganz anders. Er hatte damit alle zu Untertanen des »Herrschers der Gläubigen« gemacht, des als
divus
verehrten Oberhauptes der Kultreligion. Mit Konstantin kam die große Wandlung: er hat als Objekt des kaiserlichen Kalifenrechts an die Stelle der synkretistischen die christliche Glaubensgemeinschaft gesetzt und damit
die christliche Nation konstituiert
. Die Bezeichnungen fromm und ungläubig wechseln ihren Platz. Seit Konstantin wird das »römische« Recht ganz unvermerkt immer
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