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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Tatsachenstoff vorliegt, für den das geltende Recht eine Lücke aufweist, so kann er diese
sofort schließen
und also mitten im Prozeß ein neues Recht schaffen, welches – die Billigung durch den Richterstand in ganz bestimmten Formen vorausgesetzt –
von nun an zum dauernden Bestande gehört
. Gerade dies ist so unantik wie möglich. Nur weil der Lauf des öffentlichen Lebens innerhalb eines Zeitalters sich wesentlich gleich bleibt und die wichtigsten Rechtslagen also immer wiederkehren, bildet sich in Rom allmählich ein Bestand von Sätzen heraus, der
erfahrungsgemäß – nicht
, weil man ihnen Gewalt für die Zukunft verliehen hat – sich immer wieder einstellt, gewissermaßen immer aufs neue erzeugt wird. Die Summe dieser Sätze, kein System, sondern eine Sammlung, bildet jetzt »das Recht«, wie es in der späteren Ediktalgesetzgebung der Prätoren vorliegt, deren wesentliche Bestandteile ein Prätor aus Gründen der Zweckmäßigkeit von dem andern übernimmt.
    Erfahrung bedeutet also im antiken Rechtsdenken etwas anderes als bei uns: nicht den Überblick über eine lückenlose Gesetzesmasse, die alle möglichen Fälle voraussieht, und die Übung in ihrer Anwendung, sondern das Wissen, daß gewisse Urteilslagen sich immer wieder einstellen, so daß man es sich ersparen kann, das Recht für sie immer aufs neue zu formen.
    Die echt antike Form, in welcher der Gesetzesstoff sich langsam sammelt, ist also eine fast von selbst erfolgende Summation der einzelnen
nomoi, leges, edicta
, wie zur Zeit des prätorischen Amtsrechts in Rom. Alle sogenannten Gesetzgebungen des Solon, Charondas, der XII Tafeln sind nichts als gelegentliche Zusammenfassungen solcher Edikte, die sich als brauchbar erwiesen haben. Das Recht von Gortyn, etwa gleichzeitig mit den XII, stellt eine Novellengruppe zu einer älteren Sammlung dar. Eine neugegründete Stadt legte sich alsbald eine solche Sammlung an, wobei viel Dilettantismus unterlief. So hat Aristophanes in den Vögeln die Gesetzesfabrikanten verspottet. Von einem System ist nirgends die Rede, noch weniger von der Absicht, das Recht damit für lange Zeit festzulegen.
    Im Abendlande besteht im stärksten Gegensatz dazu die Tendenz, von vornherein den gesamten lebenden Rechtsstoff in ein für immer gegliedertes und erschöpfendes Gesamtwerk zu bringen, in dem jeder überhaupt denkbare Fall der Zukunft im voraus entschieden ist. Alles abendländische Recht wird für die Zukunft, alles antike für den Augenblick geprägt.
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    Dem scheint die Tatsache zu widersprechen, daß es in Wirklichkeit antike Gesetzwerke gegeben hat, die von Berufenen, und zwar zu dauernder Anwendung hergestellt worden sind. Allerdings wissen wir vom frühantiken Recht (1100–700) nicht das geringste, und es ist wohl sicher, daß eine Aufzeichnung der bäuerlichen und frühstädtischen Gewohnheitsrechte im Gegensatz zu denen der gotischen und früharabischen Zeit (Sachsenspiegel, syrisches Rechtsbuch) nicht stattgefunden hat. Die älteste für uns noch erkennbare Schicht bilden die seit 700 entstandenen Sammlungen, welche mythischen oder halbmythischen Persönlichkeiten zugeschrieben wurden: Lykurg, Zaleukos, Charondas, Drakon [Beloch, Griechische Geschichte I, I, S. 350.] und einigen römischen Königen. [Hinter denen das etruskische Recht steht, die Urform des altrömischen. Rom war eine etruskische Stadt.] Sie waren vorhanden, das ergibt die Gestalt der Sage, aber weder ihre wirklichen Urheber noch die wirklichen Vorgänge der Kodifizierung noch der ursprüngliche Inhalt sind den Griechen der Perserzeit noch bekannt gewesen.
    Eine zweite Schicht, dem Codex Justinians, der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland entsprechend, knüpft sich an die Namen Solon (600), Pittakos (550) und andere. Das sind bereits ausgebildete Rechte von städtischem Geist. Sie wurden als
politeia, nomos
bezeichnet, gegenüber den alten Namen der
thesmoi
oder
rhetrai
[Busolt, Griechische Staatskunde, S. 528.] Wir kennen also in Wirklichkeit nur die Geschichte des spätantiken Rechts. Woher nun diese plötzlichen Kodifikationen? Schon ein Blick auf die Namen lehrt, daß es sich bei diesen Vorgängen letzten Endes überhaupt nicht um ein Recht handelt, das als Ergebnis reiner Erfahrungen niedergelegt werden soll, sondern um die
Entscheidung politischer Machtfragen
.
    Es ist ein großer Irrtum, wenn man glaubt, daß es ein gleichsam über den Dingen schwebendes, von politisch-wirtschaftlichen Interessen ganz unabhängiges

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