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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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diese Sitten gesetzt oder aufgeschrieben, aber sie sind da; sie sind wie alle Standessitten überall und zu allen Zeiten anders und jedesmal nur innerhalb des Kreises der Zugehörigen verbindlich. Neben den adligen Tugenden der Treue, Tapferkeit, Ritterlichkeit, Kameradschaft, die keiner Berufsgenossenschaft fremd sind, erscheinen scharf ausgeprägte Anschauungen über den ethischen Wert des Fleißes, des Erfolges, der Arbeit und ein erstaunliches Distanzgefühl. Dergleichen
hat
man, ohne viel darum zu wissen – erst der Verstoß bringt die Sitte zum Bewußtsein –, im Gegensatz zu religiösen Geboten, die zeitlos und allgemeingültig sind, aber als nie verwirklichte Ideale, und die man lernen muß, um sie zu wissen und befolgen zu können.
    Die religiös-asketischen Grundbegriffe wie »selbstlos« und »sündlos« sind innerhalb des Wirtschaftslebens ohne Sinn. Für den wahren Heiligen ist die Wirtschaft überhaupt Sünde, [»Negotium (damit ist jede Art von Erwerbstätigkeit gemeint; das Geschäft heißt
commercium
)
negat otium neque quaerit veram quietem, quae est deus
«, heißt es im Decretum Gratiani (vgl. Bd. II, S. 647).] nicht nur das Zinsnehmen und die Freude am Reichtum oder der Neid der Armen darauf. Das Wort von den Lilien auf dem Felde ist für tief religiöse – und philosophische – Naturen unbedingt wahr. Sie stehen mit dem ganzen Schwergewicht ihres Wesens außerhalb der Wirtschaft und Politik und aller andern Tatsachen »dieser Welt«. Das lehrt die Zeit Jesu ebenso wie die des heiligen Bernhard und das Grundgefühl im heutigen Russentum, und ebenso die Lebensführung eines Diogenes oder Kant. Deshalb wählt man freiwillige Armut und Wanderschaft oder flüchtet sich in Mönchszellen und Gelehrtenstuben. Wirtschaftlich betätigt sich
nie
eine Religion oder Philosophie sondern immer nur der politische Organismus einer
Kirche
oder der soziale einer theoretisierenden Genossenschaft. Es ist immer ein Kompromiß mit »dieser Welt« und ein Zeichen des Willens zur Macht. [ Die Frage des Pilatus stellt auch das Verhältnis von Wirtschaft und Wissenschaft fest. Der religiöse Mensch wird vergebens, den Katechismus in der Hand, das Treiben seiner politischen Umwelt zu bessern suchen. Sie geht ruhig ihres Weges und überläßt ihn seinen Gedanken. Der Heilige hat nur die Wahl, sich anzupassen – dann wird er Kirchenpolitiker und gewissenlos – oder sich aus der Welt zu flüchten, in die Einsiedelei, selbst ins Jenseits. Aber dasselbe wiederholt sich, nicht ohne Komik, innerhalb der städtischen Geistigkeit. Hier möchte der Philosoph, der ein ethisch-soziales System errichtet hat, das voll von abstrakter Tugend ist und allein richtig, wie sich versteht, das Wirtschaftsleben darüber aufklären, wie es sich zu verhalten und wohin es zu streben habe. Es ist immer das gleiche Schauspiel, sei das System liberal, anarchistisch oder sozialistisch und stamme es von Plato, Proudhon oder Marx. Aber auch die Wirtschaft geht unbekümmert weiter und überläßt dem Denker die Wahl, sich zurückzuziehen und seinen Jammer über diese Welt auf dem Papier auszuströmen, oder in sie als Wirtschaftspolitiker einzutreten, wo er sich entweder lächerlich macht oder alsbald seine Theorie zum Teufel schickt, um sich einen führenden Platz zu erkämpfen.]
2
    Was man das Wirtschaftsleben einer Pflanze nennen darf, vollzieht sich an und in ihr, ohne daß sie selbst etwas andres wäre als der Schauplatz und willenlose Gegenstand eines Naturvorgangs. [Vgl. Bd. II, S. 557.] Dies pflanzenhafte, traumhafte Element liegt unverändert der »Wirtschaft« auch noch des menschlichen Leibes zugrunde, wo es in Gestalt der Kreislauforgane sein fremdartiges und willenloses Dasein führt. Mit dem frei im Raum beweglichen Leibe des Tieres aber tritt zum Dasein das Wachsein, das verstehende Empfinden und damit der Zwang, für die Erhaltung des Lebens selbständig zu
sorgen
. Hier beginnt die Lebens
angst
und führt zu einem Tasten, Wittern, Spähen, Horchen mit immer schärferen Sinnen und daraufhin zu Bewegungen im Raume, zum Suchen, Sammeln, Verfolgen, Überlisten, Rauben, das sich bei manchen Arten wie den Bibern, Ameisen, Bienen, vielen Vögeln und Raubtieren bis zu den Anfängen einer wirtschaftlichen Technik steigert, welche Überlegung, das heißt eine gewisse Ablösung des Verstehens vom Empfinden voraussetzt. Der Mensch ist eigentlich Mensch in dem Grade, als sich sein Verstehen vom Empfinden befreit hat und als Denken in die

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