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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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verständigen können. Jeder gibt dem Mangel an klarem Denken bei dem anderen Schuld, und doch ist das mit diesem Ausdruck bezeichnete Etwas, über dessen Struktur niemand Gewalt hat, kein Schlechtersein, sondern ein notwendiges Anderssein. Dasselbe gilt von aller Naturwissenschaft.
    Aber man halte fest: Geschichte
wissenschaftlich
behandeln wollen ist im letzten Grunde immer etwas Widerspruchsvolles. Die echte Wissenschaft reicht so weit, als die Begriffe richtig und falsch Geltung haben. Das gilt von der Mathematik, das gilt also auch von der historischen
Vorwissenschaft
der Sammlung, Ordnung und Sichtung des Stoffes. Der eigentlich geschichtliche Blick aber, der von hier erst
ausgeht,
gehört ins Reich der Bedeutungen, wo nicht richtig und falsch, sondern flach und tief die maßgebenden Worte sind. Der echte Physiker ist nicht tief, sondern »scharfsinnig«. Erst wenn er das Gebiet der Arbeitshypothesen verläßt und an die letzten Dinge streift, kann er tief sein – dann aber ist er auch schon Metaphysiker geworden. Natur soll man wissenschaftlich behandeln, über Geschichte soll man dichten. Der alte Leopold von Ranke soll einmal gesagt haben, daß der »Quentin Durward« von Scott doch eigentlich die wahre Geschichtsschreibung darstelle. So ist es auch; ein gutes Geschichtswerk hat seinen Vorzug darin, daß der Leser sein eigner Walter Scott zu sein vermag.
    Auf der andern Seite, dort, wo das Reich der Zahlen und des exakten Wissens herrschen sollte, hatte Goethe »lebendige Natur« gerade das genannt, was ein unmittelbares Anschauen des reinen Werdens und Sichgestaltens, mithin im hier festgelegten Sinne
Geschichte
war.
Seine
Welt war
zunächst
ein Organismus, ein Wesen, und man begreift, daß seine Forschungen, selbst wenn sie äußerlich ein physikalisches Gepräge tragen, weder Zahlen noch Gesetze noch eine in Formeln gebannte Kausalität und überhaupt keine Zerlegung bezwecken, daß sie vielmehr Morphologie im höchsten Sinne sind und damit das spezifisch abendländische (und sehr unantike) Mittel aller kausalen Betrachtung, das messende Experiment, vermeiden, es aber auch nirgends vermissen lassen. Seine Betrachtung der Erdoberfläche ist stets Geologie, nie Mineralogie (die er die Wissenschaft von etwas Totem nannte).
    Es sei noch einmal gesagt: Es gibt keine genaue Grenze zwischen beiden Arten der Weltfassung. So sehr Werden und Gewordnes Gegensätze sind, so sicher ist in jeder Art von Verstehen beides vorhanden. Geschichte erlebt, wer beides als werdend, als sich vollendend anschaut; Natur erkennt, wer beides als geworden, als vollendet zergliedert.
    Es liegt eine ursprüngliche Anlage in jedem Menschen, jeder Kultur, jeder Kulturstufe vor, eine ursprüngliche Neigung und Bestimmung, eine der beiden Formen als Ideal des Weltverstehens vorzuziehen. Der Mensch des Abendlandes ist in hohem Grade historisch angelegt, [Das Antihistorische als Ausdruck einer entschieden systematischen Veranlagung ist vom Ahistorischen sehr zu unterscheiden. Der Anfang des 4. Buches der »Welt als Wille und Vorstellung« (§ 53) ist bezeichnend für einen Menschen, der antihistorisch denkt, d. h. aus theoretischen Gründen das Historische in sich, das
vorhanden
ist, unterdrückt und verwirft im Gegensatz zur ahistorischen hellenischen Natur, die es nicht
hat
und nicht
versteht
.] der antike Mensch war es um so weniger.
Wir
verfolgen alles Gegebene im Hinblick auf Vergangenheit und Zukunft, die Antike erkannte nur die punktförmige Gegenwart als seiend an. Der Rest wurde Mythos. Wir haben in jedem Takte unsrer Musik von Palestrina bis Wagner
auch ein Symbol des Werdens
vor uns, die Griechen in jeder ihrer Statuen ein Bild der reinen Gegenwart. Der Rhythmus eines Körpers ruht im gleichzeitigen Verhältnis der Teile, der Rhythmus einer Fuge im zeitlichen Verlauf.
3
    So treten die Prinzipien der
Gestalt
und des
Gesetzes
vor uns hin als die beiden Grundelemente aller Weltbildung. Je entschiedener ein Weltbild die Züge der Natur trägt, desto unumschränkter gilt in ihm das Gesetz und die Zahl. Je reiner eine Welt als ein ewig Werdendes angeschaut wird, desto zahlenfremder ist die ungreifbare Fülle ihrer Gestaltung. »Die Gestalt ist ein Bewegliches, ein Werdendes, ein Vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre. Die Lehre von der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur«, heißt es in einer Notiz aus Goethes Nachlaß. So unterscheidet sich schon hinsichtlich der Methode Goethes vielberufene

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