Der Untergang des Abendlandes
Dimensionen von unbeschränkter Anzahl stellen vollkommen abstrakte Eigenschaften einer Zahlengruppe dar. Diese Zahlengruppe – von n unabhängigen geordneten Elementen – ist das
Bild
des Punktes; sie
heißt
ein Punkt. Eine daraus logisch entwickelte Gleichung heißt
Ebene
, ist das
Bild
einer Ebene. Der Inbegriff aller Punkte von n Dimensionen
heißt
ein n-dimensionaler
Raum
. [Vom Standpunkt der Mengenlehre aus heißt eine wohlgeordnete Punktmenge, ohne Rücksicht auf die Dimensionenzahl, ein Körper, eine Menge von n-1 Dimensionen also
im Verhältnis dazu
eine Fläche. Die »Begrenzung« (Wand, Kante) einer Punktmenge stellt eine Punktmenge von geringerer Mächtigkeit dar.] In diesen transzendenten Raumwelten, die zu keiner Art von Sinnlichkeit mehr in irgendeinem Verhältnis stehen, herrschen die von der Analysis aufzufindenden Beziehungen, welche sich mit den Ergebnissen der experimentellen Physik in ständiger Übereinstimmung befinden. Diese Räumlichkeit höheren Ranges ist ein Symbol, das durchaus Eigentum des abendländischen Geistes bleibt. Nur dieser Geist hat das Gewordene und Ausgedehnte
in diese
Formen zu bannen, das Fremde durch
diese
Art der Aneignung – man erinnere sich des Begriffes »tabu« – zu beschwören, zu zwingen, mithin zu »erkennen« versucht und verstanden. Erst in dieser Sphäre des Zahlendenkens, die nur einem sehr kleinen Kreis von Menschen noch zugänglich ist, erhalten selbst Bildungen wie die Systeme der hyperkomplexen Zahlen (etwa die Quaternionen der Vektorenrechnung) und zunächst ganz unverständliche Zeichen wie xxx ∞ n den Charakter von etwas Wirklichem. Man hat eben zu begreifen, daß Wirklichkeit nicht nur sinnliche Wirklichkeit ist, daß vielmehr das Seelische seine Idee in noch ganz anderen als anschaulichen Bildungen verwirklichen kann.
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Aus dieser großartigen Intuition symbolischer Raumwelten folgt die letzte und abschließende Fassung der gesamten abendländischen Mathematik, die Erweiterung und Vergeistigung der Funktionentheorie zur
Gruppentheorie
. Gruppen sind Mengen oder Inbegriffe gleichartiger mathematischer Gebilde, also z. B. die Gesamtheit aller Differentialgleichungen von einem gewissen Typus, Mengen, die dem Dedekindschen Zahlenkörper analog gebaut und geordnet sind. Es handelt sich, wie man fühlt, um Welten ganz neuer Zahlen, die für das
innere Auge
des Eingeweihten doch nicht ganz ohne eine gewisse Sinnlichkeit sind. Es werden nun Untersuchungen gewisser Elemente dieser ungeheuer abstrakten Formsysteme notwendig, welche in bezug auf eine einzelne Gruppe von Operationen –
von Transformationen des Systems
– von deren Wirkungen unabhängig bleiben, Invarianz besitzen. Die allgemeine Aufgabe dieser Mathematik erhält also (nach Klein) die Form: »Es ist eine n-dimensionale Mannigfaltigkeit (»Raum«) und eine Gruppe von Transformationen gegeben. Die der Mannigfaltigkeit angehörigen Gebilde sollen hinsichtlich solcher Eigenschaften untersucht werden, die durch Transformationen der Gruppe nicht geändert werden.«
Auf diesem höchsten Gipfel schließt nunmehr – nach Erschöpfung ihrer sämtlichen inneren Möglichkeiten und nachdem sie ihre Bestimmung,
Abbild und reinster Ausdruck der Idee des faustischen Seelentums
zu sein, erfüllt hat – die Mathematik des Abendlandes ihre Entwicklung ab, in demselben Sinne, wie es die Mathematik der antiken Kultur im 3. Jahrhundert tat. Beide Wissenschaften – es sind die einzigen, deren organische Struktur sich heute schon geschichtlich durchschauen läßt – sind aus der Konzeption einer völlig neuen Zahl durch Pythagoras und Descartes entstanden; beide haben in prachtvollem Aufstieg ein Jahrhundert später ihre Reife erlangt, und beide vollendeten nach einer Blüte von drei Jahrhunderten das Gebäude ihrer Ideen, in derselben Zeit, als die Kultur, der sie angehören, in eine weltstädtische Zivilisation überging. Dieser tiefbedeutsame Zusammenhang wird später aufgeklärt werden. Sicher ist, daß für uns die Zeit der
großen
Mathematiker vorüber ist. Es ist heute dieselbe Arbeit des Erhaltens, Abrundens, Verfeinerns, Auswählens, die talentvolle Kleinarbeit an Stelle der großen Schöpfungen im Gange, wie sie auch die alexandrinische Mathematik des späteren Hellenismus kennzeichnet.
Das historische Schema auf der folgenden Seite wird dies deutlicher machen.
Antike
Abendland
1. Konzeption einer neuen Zahl
1. Konzeption einer neuen Zahl
Um 540 Die Zahl als Größe
Die Pythagoräer (Um 470
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