Der Untergang des Abendlandes
augenblicklich gültigen Idealen und Interessen als Maßstäbe für die Bedeutung des Erreichten und zu Erreichenden macht – das ist die Absicht alles Folgenden.
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Natur und Geschichte
: [Vgl. Bd. I, S. 73f. und Bd. II, S. 579f.] So stehen für jeden Menschen zwei äußerste Möglichkeiten, die ihn umgebende Wirklichkeit als Weltbild zu ordnen, einander gegenüber. Eine Wirklichkeit ist Natur, insofern sie alles Werden dem Gewordenen, sie ist Geschichte, insofern sie alles Gewordne dem Werden einordnet. Eine Wirklichkeit wird
in ihrer »erinnerten« Gestalt erschaut
– so entsteht die Welt Platons, Rembrandts, Goethes, Beethovens – oder
in ihrem gegenwärtig-sinnlichen Bestande kritisch begriffen
– dies sind die Welten von Parmenides und Descartes, Kant und Newton. Erkennen im strengen Sinne des Wortes ist derjenige Erlebnisakt, dessen vollzogenes Resultat »Natur« heißt. Erkanntes und Natur sind identisch. Alles Erkannte ist, wie das Symbol der mathematischen Zahl bewies, gleichbedeutend mit dem mechanisch Begrenzten, dem ein für allemal Richtigen, dem Gesetzten. Natur ist der
Inbegriff des gesetzlich Notwendigen
. Es gibt nur
Natur
gesetze. Kein Physiker, der seine Bestimmung begreift, wird über diese Grenzen hinausgehen wollen. Seine Aufgabe ist es, die Gesamtheit, das wohlgeordnete System aller Gesetze festzustellen, die im Bilde
seiner
Natur auffindbar sind, mehr noch, die das Bild seiner Natur erschöpfend und ohne Rast
darstellen
.
Andrerseits: Anschauen – ich erinnere an das Wort Goethes: »Das Anschauen ist vom Ansehen sehr zu unterscheiden« – ist derjenige Erlebnisakt, der,
indem er sich vollzieht, selbst Geschichte ist
. Erlebtes ist Geschehenes, ist Geschichte.
Alles Geschehen ist
einmalig
und nie sich wiederholend. Es trägt das Merkmal der Richtung (der »Zeit«), der
Nichtumkehrbarkeit
. Das Geschehene, als nunmehr Gewordnes dem Werden, als Erstarrtes dem Lebendigen entgegengesetzt, gehört unwiderruflich der Vergangenheit an. Das Gefühl hiervon ist die Weltangst. Alles Erkannte aber ist
zeitlos
, weder vergangen noch zukünftig, sondern schlechthin »vorhanden« und also von dauernder Gültigkeit. Dies gehört zur inneren Beschaffenheit des Naturgesetzlichen. Das Gesetz, das Gesetzte, ist
antihistorisch
. Es schließt den
Zufall
aus. Naturgesetze sind Formen einer ausnahmslosen und also anorganischen Notwendigkeit. Es wird klar, weshalb Mathematik als die Ordnung des Gewordnen durch die Zahl sich
immer
auf Gesetze und Kausalität und
nur
auf sie bezieht.
Das Werden »hat keine Zahl«. Nur Lebloses – und Lebendiges nur, indem man von seinem Lebendigsein absieht – kann gezählt, gemessen, zerlegt werden. Das reine Werden, das Leben ist in diesem Sinne grenzenlos. Es liegt jenseits des Bereichs von Ursache und Wirkung, Gesetz und Maß. Keine tiefe und echte Geschichtsforschung sucht nach kausaler Gesetzlichkeit; andernfalls hat sie ihr eigentliches Wesen nicht begriffen.
Indes: Betrachtete Geschichte ist kein reines Werden; sie ist ein Bild, eine vom Wachsein des Betrachters ausstrahlende Weltform, in der das Werden das Gewordne
beherrscht
. Auf dem Gehalt an Gewordenem, auf einem Mangel also beruht die Möglichkeit, ihr wissenschaftlich etwas abzugewinnen. Und je höher dieser Gehalt ist, desto mechanischer, desto verstandesmäßiger, desto kausaler erscheint sie. Auch Goethes »lebendige Natur«, ein völlig unmathematisches Weltbild, hatte doch so viel Gehalt an Totem und Starrem, daß er wenigstens ihren Vordergrund wissenschaftlich behandeln konnte. Sinkt dieser Gehalt
sehr
tief, ist sie beinahe
nur
reines Werden, so ist das Anschauen zu einem Erlebnis geworden, das nur noch Arten
künstlerischer
Fassung gestattet. Was Dante als Weltenschicksal vor seinem geistigen Auge sah, hätte er
nicht
wissenschaftlich gestalten können, auch Goethe nicht, was er in den großen Augenblicken seiner Faustentwürfe erblickte, und ebensowenig Plotin und Giordano Bruno ihre Gesichte, die nicht das Ergebnis von Forschungen gewesen sind. Hier liegt die wichtigste Ursache des Streites um die innere Form der Geschichte. Vor demselben Gegenstand, vor demselben Tatsachenstoff hat doch jeder Betrachter seiner Anlage nach einen anderen
Eindruck
des Ganzen, ungreifbar und nicht mitteilbar, der seinem Urteil zugrunde liegt und ihm die persönliche Farbe gibt. Der Grad von Gewordenem wird im Schauen zweier Menschen immer verschieden sein, Grund genug, daß sie sich niemals über Aufgabe und Methode
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