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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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tausendjährigem Lichte wieder in das Dunkel urseelenhafter Mystik, in den Mutterschoß, ins Grab zurück. Das ist der Zauber der »zweiten Religiosität«, [Vgl. Bd. II, S. 941f.] wie ihn damals der Mithras-, Isis- und Solkult auf spätantike Menschen ausübten – dieselben Kulte, welche eine eben ertagende Seele im Osten als den frühesten, träumerischen, ängstlichen Ausdruck ihres Alleinseins in dieser Welt mit einer ganz neuen Innerlichkeit erfüllt hatte.
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    Man spricht vom
Habitus
einer Pflanze und meint damit die ihr allein eignende Art der äußern Erscheinung, den Charakter, den Gang, die Dauer ihres Hervortretens in die Lichtwelt unsrer Augen, wodurch sich jede in jedem ihrer Teile und auf jeder Stufe ihres Daseins von den Exemplaren aller andern Gattungen unterscheidet. Ich wende diesen für die Physiognomik wichtigen Begriff auf die großen Organismen der Geschichte an und spreche von dem Habitus indischer, ägyptischer, antiker Kultur, Geschichte oder Geistigkeit. Ein unbestimmtes Gefühl davon hat immer schon dem
Stilbegriff
zugrunde gelegen, und es heißt ihn nur verdeutlichen und vertiefen, wenn man vom religiösen, gelehrten, politischen, sozialen, wirtschaftlichen Stil einer Kultur, überhaupt vom
Stil einer Seele
spricht. Dieser Habitus des Daseins im Raume, der beim einzelnen Menschen sich auf Tun und Denken, Haltung und Gesinnung erstreckt, umfaßt im Dasein ganzer Kulturen den gesamten Lebensausdruck höherer Ordnung, wie die Wahl bestimmter Kunstgattungen (der Rundplastik, des Fresko durch die Hellenen, des Kontrapunkts, der Ölmalerei im Abendlande) und die entschiedene Ablehnung anderer (der Plastik durch die Araber), den Hang zur Esoterik (Indien) oder Popularität (Antike), zur Rede (Antike) oder Schrift (China, Abendland) als den Formen der geistigen Mitteilung, den Typus ihrer Trachten, Verwaltungen, Verkehrsmittel und Umgangsformen. Alle großen Persönlichkeiten der Antike bilden eine Gruppe für sich, deren seelischer Habitus von dem aller großen Menschen der arabischen oder abendländischen Gruppe streng unterschieden ist. Man vergleiche selbst Goethe oder Raffael mit antiken Menschen, und Heraklit, Sophokles, Plato, Alkibiades, Themistokles, Horaz, Tiberius rücken sofort zu einer einzigen Familie zusammen. Jede antike Weltstadt, vom Syrakus des Hieron bis zum kaiserlichen Rom, ist, als Verkörperung und Sinnbild eines und desselben Lebensgefühls, nach Grundriß, Straßenbild, Sprache der privaten und öffentlichen Architektur, nach dem Typus von Plätzen, Gassen, Höfen, Fassaden, nach Farbe, Lärm, Gewimmel, nach dem Geist ihrer Nächte von der Gruppe der indischen, der arabischen, der abendländischen Weltstädte tief verschieden. Im eroberten Granada war die Seele arabischer Städte, Bagdads und Kairos, noch lange fühlbar, während in dem Madrid Philipps II. schon alle physiognomischen Merkmale der modernen Stadtbilder von London und Paris anzutreffen sind. Es liegt eine hohe Symbolik in jedem Anderssein dieser Art; man denke an den abendländischen Hang zu geradlinigen Perspektiven und Straßenfluchten wie dem mächtigen Zuge der Champs-Elysées vom Louvre an oder dem Platz vor der Peterskirche, und an dessen Gegensatz in der fast absichtlichen Verworrenheit und Enge der Via sacra, des Forum Romanum und der Akropolis mit ihrer unsymmetrischen und unperspektivischen Ordnung der Teile. Auch der Städtebau wiederholt, ob aus dunklem Trieb wie in der Gotik oder bewußt wie seit Alexander und Napoleon, hier das Prinzip der leibnizschen Mathematik des unendlichen Raumes und dort das der euklidischen vereinzelter Körper. [Vgl. Bd. II, S. 664ff.]
    Zum Habitus einer Gruppe von Organismen gehört aber auch eine bestimmte Lebensdauer und ein bestimmtes Tempo der Entwicklung. Diese Begriffe dürfen in einer Strukturlehre der Geschichte nicht fehlen. Der Takt des antiken Daseins war ein anderer als der des ägyptischen oder arabischen. Man darf vom Andante des hellenisch-römischen und vom Allegro con brio des faustischen Geistes reden. Mit dem Begriff der Lebensdauer eines Menschen, eines Schmetterlings, einer Eiche, eines Grashalms verbindet sich, ganz unabhängig von allen Zufälligkeiten des Einzelschicksals, ein bestimmter Wert. Zehn Jahre sind im Leben aller Menschen ein annähernd gleichbedeutender Abschnitt, und die Metamorphose der Insekten knüpft sich in einzelnen Fällen an eine im voraus genau bekannte Anzahl von Tagen. Die Römer verbanden mit ihren Begriffen pueritia,

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