Der Untergang des Abendlandes
geschichtlichen Bilde der einen gibt, deren Gegenstück, und zwar in einer streng bezeichnenden Form und an ganz bestimmter Stelle nicht in den übrigen aufzufinden wäre. Allerdings bedarf es, um diese Homologie zweier Tatsachen zu begreifen, einer ganz andern Vertiefung und Unabhängigkeit vom Augenschein des Vordergrundes, als sie unter Historikern bisher üblich war, die sich nie hätten träumen lassen, daß der Protestantismus in der dionysischen Bewegung sein Gegenbild findet und daß der englische Puritanismus im Abendlande dem Islam in der arabischen Welt entspricht.
Aus diesem Aspekt ergibt sich eine Möglichkeit, die weit über den Ehrgeiz aller bisherigen Geschichtsforschung hinausgeht, welcher sich im wesentlichen darauf beschränkte, Vergangnes, soweit man es kannte, zu ordnen, und zwar nach einem einreihigen Schema: die Möglichkeit nämlich, die Gegenwart als Grenze der Untersuchung zu überschreiten und auch die
noch nicht
abgelaufenen Zeitalter abendländischer Geschichte nach innerer Form, Dauer, Tempo, Sinn, Ergebnis vorauszubestimmen, aber auch längst verschollene und unbekannte Epochen, ja ganze Kulturen der Vergangenheit an der Hand morphologischer Zusammenhänge zu rekonstruieren (ein Verfahren nicht unähnlich dem der Paläontologie, die heute fähig ist, aus einem einzigen aufgefundenen Schädelfragment weitgehende und sichere Angaben über das Skelett und die Zugehörigkeit des Stückes zu einer bestimmten Art zu machen).
Es ist, den physiognomischen Takt vorausgesetzt, durchaus möglich, aus zerstreuten Einzelheiten der Ornamentik, Bauweise, Schrift, aus vereinzelten Daten politischer, wirtschaftlicher, religiöser Natur die organischen Grundzüge des Geschichtsbildes ganzer Jahrhunderte wiederzufinden, aus Elementen der künstlerischen Formensprache etwa die gleichzeitige Staatsform, aus mathematischen Formen den Charakter der entsprechenden wirtschaftlichen abzulesen, ein echt Goethesches, auf Goethes Idee vom
Urphänomen
zurückzuführendes Verfahren, das in beschränktem Umfange der vergleichenden Tier- und Pflanzenkunde geläufig ist, das sich aber in einem nie geahnten Grade auf den gesamten Bereich der Historie ausdehnen läßt.
II. Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip
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Dieser Gedankengang erschließt endlich den Blick auf einen Gegensatz, der den Schlüssel zu einem der ältesten und mächtigsten Menschheitsprobleme bildet, das erst durch ihn zugänglich und – soweit das Wort überhaupt einen Sinn hat – lösbar erscheint: den Gegensatz von
Schicksalsidee
und
Kausalitätsprinzip
, der wohl niemals bisher als solcher, in seiner tiefen, weltgestaltenden Notwendigkeit erkannt worden ist.
Wer überhaupt versteht, inwiefern man die Seele als
Idee eines Daseins
bezeichnen kann, der wird auch ahnen, wie nahe verwandt ihr die
Gewißheit eines Schicksals
ist und inwiefern das Leben selbst, das ich die Gestalt nannte, in welcher die Verwirklichung des Möglichen sich vollzieht, als gerichtet, als unwiderruflich in jedem Zuge, als
schicksalhaft
hingenommen werden muß – dumpf und ängstigend vom Urmenschen, klar und in der Fassung einer
Weltanschauung
, die allerdings nur durch die Mittel der Religion und Kunst, nicht durch Begriffe und Beweise mitgeteilt werden kann, vom Menschen hoher Kulturen.
Jede höhere Sprache besitzt eine Anzahl Worte, die wie von einem tiefen Geheimnis umgeben sind: Geschick, Verhängnis, Zufall, Fügung, Bestimmung. Keine Hypothese, keine Wissenschaft kann je an das rühren, was man fühlt, wenn man sich in den Sinn und Klang dieser Worte versenkt. Es sind Symbole, nicht Begriffe. Hier ist der Schwerpunkt des Weltbildes, das ich die Welt als Geschichte im Unterschiede von der Welt als Natur genannt habe. Die Schicksalsidee verlangt Lebenserfahrung, nicht wissenschaftliche Erfahrung, die Kraft des Schauens, nicht Berechnung, Tiefe, nicht Geist. Es gibt eine
organische Logik
, eine instinkthafte, traumsichere Logik allen Daseins im Gegensatz zu einer
Logik des Anorganischen
, des Verstehens, des Verstandenen. Es gibt eine Logik der Richtung gegenüber einer Logik des Ausgedehnten. Kein Systematiker, kein Aristoteles oder Kant hat mit ihr etwas anzufangen gewußt. Sie verstehen von Urteil, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Erinnerung zu reden, aber sie schweigen von dem, was in den Worten Hoffnung, Glück, Verzweiflung, Reue, Ergebenheit, Trotz liegt. Wer hier, im Lebendigen, Gründe und Folgen sucht und wer da glaubt, daß eine tiefinnere Gewißheit
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