Der Untergang des Abendlandes
ausbreitet. Der tiefer ins Wesenhafte dringende Blick aber sondert aus dieser Willkür reine Formen ab, die dicht verhüllt und nur widerwillig sich entschleiernd allem menschlichen Werden zugrunde liegen.
Vom Bilde des gesamten Weltwerdens mit seinen mächtig hintereinander getürmten Horizonten, wie sie das faustische Auge umfaßt, [Vgl. Bd. II, S. 588 f.] dem Werden des Sternenhimmels, der Erdoberfläche, der Lebewesen, der Menschen, betrachten wie jetzt nur die äußerst kleine morphologische Einheit der »Weltgeschichte« im gewohnten Sinne, der von dem späten Goethe wenig geachteten Geschichte des höheren Menschentums, die gegenwärtig etwa 6000 Jahre umfaßt, ohne auf das tiefe Problem der inneren Gleichartigkeit all dieser Aspekte einzugehen. Was dieser flüchtigen Formenwelt Sinn und Gehalt gibt und was bis jetzt tief verschüttet lag unter der kaum durchdrungenen Masse handgreiflicher »Daten« und »Tatsachen«, ist das
Phänomen der großen Kulturen
. Erst nachdem diese Urformen in ihrer physiognomischen Bedeutung erschaut, gefühlt, herausgearbeitet worden sind, kann das Wesen und die innere Form der menschlichen Geschichte – gegenüber dem Wesen der Natur –
für uns
als verstanden gelten. Erst von diesem Ein- und Ausblicke an darf von einer Philosophie der Geschichte ernsthaft die Rede sein. Erst dann ist es möglich, jede Tatsache im historischen Bilde, jeden Gedanken, jede Kunst, jeden Krieg, jede Persönlichkeit, jede Epoche ihrem symbolischen Gehalte nach zu begreifen und die Geschichte selbst nicht mehr als bloße Summe von Vergangenem ohne eigentliche Ordnung und innere Notwendigkeit vor sich zu sehen, sondern als einen Organismus von strengstem Bau und sinnvollster Gliederung, in dessen Entwicklung die zufällige Gegenwart des Betrachters keinen Abschnitt bezeichnet und die Zukunft nicht mehr formlos und unbestimmbar erscheint.
Kulturen sind Organismen
. [Vgl. Bd. II, S. 596.] Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie. Die ungeheure Geschichte der chinesischen oder antiken Kultur ist morphologisch das genaue Seitenstück zur Kleingeschichte des einzelnen Menschen, eines Tieres, eines Baumes oder einer Blume. Das ist für den faustischen Blick keine Forderung, sondern eine Erfahrung. Will man die überall wiederholte innere Form kennen lernen, so hat die vergleichende Morphologie der Pflanzen und Tiere längst die Methode dazu vorbereitet. [Es ist nicht die zerlegende des zoologischen »Pragmatismus« der Darwinisten mit ihrer Jagd nach Kausalzusammenhängen, sondern die anschauende und überschauende Goethes.] Im Schicksal der einzelnen, aufeinander folgenden, nebeneinander aufwachsenden, sich berührenden, überschattenden, erdrückenden Kulturen erschöpft sich der Gehalt aller Menschengeschichte. Und läßt man ihre Gestalten, die bis jetzt nur allzu tief unter der Oberfläche einer trivial fortlaufenden »Geschichte der Menschheit« verborgen waren, im Geiste vorüberziehen, so muß es gelingen, die Urgestalt
der
Kultur, frei von allem Trübenden und Unbedeutenden aufzufinden, die allen
einzelnen
Kulturen als Formideal zugrunde liegt.
Ich unterscheide die
Idee
einer Kultur, den Inbegriff ihrer inneren Möglichkeiten, von ihrer sinnlichen
Erscheinung
im Bilde der Geschichte als der vollzogenen Verwirklichung. Es ist das Verhältnis der Seele zum lebenden Körper, ihrem
Ausdruck
inmitten der Lichtwelt unsrer Augen. Die Geschichte einer Kultur ist die fortschreitende Verwirklichung ihres Möglichen. Die Vollendung ist gleichbedeutend mit dem Ende. So verhält sich die apollinische Seele, die einige von uns vielleicht verstehen und miterleben können, zu ihrer Entfaltung in der Wirklichkeit, zur »Antike«, deren dem Auge und Verstand zugänglichen Reste der Archäologe, der Philologe, der Ästhetiker und der Historiker untersuchen.
Kultur ist das
Urphänomen
aller vergangenen und künftigen Weltgeschichte. Die tiefe und wenig gewürdigte Idee Goethes, die er in seiner »lebendigen Natur« entdeckte und seinen morphologischen Forschungen stets zugrunde gelegt hat, soll hier in ihrem genauesten Sinne auf all die vollkommen ausgereiften, in der Blüte erstorbenen, halbentwickelten, im Keim erstickten Bildungen der menschlichen Geschichte angewendet werden. Es ist eine Methode des Erfühlens, nicht des Zerlegens. »Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen, und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren und
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