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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen: hier ist die Grenze.« Ein Urphänomen ist dasjenige, worin die Idee des Werdens rein vor Augen liegt. Goethe sah die Idee der
Urpflanze
in der Gestalt jeder einzelnen, zufällig entstandenen oder überhaupt möglichen Pflanze klar vor seinem geistigen Auge. Er ging bei seiner Untersuchung des
os intermaxillare
vom
Urphänomen des Wirbeltiertypus
, auf anderem Gebiete von der geologischen Schichtung, vom Blatt als der
Urform
aller pflanzlichen Organe, von der Metamorphose der Pflanzen als dem Urbild alles organischen Werdens aus. »Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen«, schrieb er aus Neapel an Herder, als er ihm seine Entdeckung mitteilte. Es war ein Blick auf die Dinge, den Leibniz verstanden hätte; das Jahrhundert Darwins ist ihm so fern als möglich geblieben.
    Aber eine Geschichtsbetrachtung, die von den Methoden des Darwinismus, das heißt der systematischen, auf dem Kausalprinzip beruhenden Naturwissenschaft ganz frei wäre, gibt es überhaupt noch nicht. Von einer strengen und klaren, ihrer Mittel und Grenzen vollkommen bewußten Physiognomik, deren Methoden erst noch zu finden wären, ist niemals die Rede gewesen. Hier liegt die große Aufgabe des 20. Jahrhunderts vor, den inneren Bau der organischen Einheiten, durch die und an denen sich Weltgeschichte vollzieht, sorgfältig bloßzulegen, das morphologisch Notwendige und Wesenhafte vom Zufälligen zu unterscheiden, den
Ausdruck
der Begebenheiten zu begreifen und die ihm zugrunde liegende Sprache zu ermitteln.
7
    Eine unübersehbare Masse menschlicher Wesen, ein uferloser Strom, der aus dunkler Vergangenheit hervortritt, dort, wo unser Zeitgefühl seine ordnende Wirksamkeit verliert und die ruhelose Phantasie – oder Angst – in uns das Bild geologischer Erdperioden hingezaubert hat, um ein nie zu lösendes Rätsel dahinter zu verbergen; ein Strom, der sich in eine ebenso dunkle und zeitlose Zukunft verliert: das ist der Untergrund des faustischen Bildes der Menschengeschichte. Der einförmige Wellenschlag zahlloser Generationen bewegt die weite Fläche. Glitzernde Streifen breiten sich aus. Flüchtige Lichter ziehen und tanzen darüber hin, verwirren und trüben den klaren Spiegel, verwandeln sich, blitzen auf und verschwinden. Wir haben sie Geschlechter, Stämme, Völker, Rassen genannt. Sie fassen eine Reihe von Generationen in einem beschränkten Kreise der historischen Oberfläche zusammen. Wenn die gestaltende Kraft in ihnen erlischt – und diese Kraft ist eine sehr verschiedene und bestimmt von vornherein eine sehr verschiedene Dauer und Plastizität dieser Bildungen –, erlöschen auch die physiognomischen, sprachlichen, geistigen Merkmale, und die Erscheinung löst sich wieder in dem Chaos der Generationen auf. Arier, Mongolen, Germanen, Kelten, Parther, Franken, Karthager, Berber, Bantu sind Namen für höchst verschiedenartige Gebilde dieser Ordnung.
    Über diese Fläche hin aber ziehen die großen Kulturen [Vgl. Bd. II, S. 596.] ihre majestätischen Wellenkreise. Sie tauchen plötzlich auf, verbreiten sich in prachtvollen Linien, glätten sich, verschwinden, und der Spiegel der Flut liegt wieder einsam und schlafend da.
    Eine Kultur wird in dem Augenblick geboren, wo eine große Seele aus dem urseelenhaften Zustande ewig-kindlichen Menschentums erwacht, sich ablöst, eine Gestalt aus dem Gestaltlosen, ein Begrenztes und Vergängliches aus dem Grenzenlosen und Verharrenden. Sie erblüht auf dem Boden einer genau abgrenzbaren Landschaft, an die sie pflanzenhaft gebunden bleibt. Eine Kultur stirbt, wenn diese Seele die volle Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt. Ihr lebendiges Dasein aber, jene Folge großer Epochen, die in strengem Umriß die fortschreitende Vollendung bezeichnen, ist ein tiefinnerlicher, leidenschaftlicher Kampf um die Behauptung der Idee gegen die Mächte des Chaos nach außen, gegen das Unbewußte nach innen, in das sie sich grollend zurückgezogen haben. Nicht nur der Künstler kämpft gegen den Widerstand der Materie und gegen die Vernichtung der Idee in sich. Jede Kultur steht in einer tiefsymbolischen und beinahe mystischen Beziehung zum Ausgedehnten, zum Räume, in dem, durch den sie sich verwirklichen will. Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer Möglichkeiten vollendet und nach

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