Der Untergang des Abendlandes
adolescentia, juventus, virilitas, senectus eine fast mathematisch genaue Vorstellung. Die Biologie der Zukunft wird ohne Zweifel die vorbestimmte Lebensdauer der Arten und Gattungen – im Gegensatz zum Darwinismus und mit grundsätzlicher Ausschaltung kausaler Zweckmäßigkeitsmotive für die Entstehung von Arten – zum Ausgangspunkt einer ganz neuen Problemstellung machen. [Vgl. Bd. II, S. 592f.] Die Dauer einer Generation – gleichviel von was für Wesen – ist eine Tatsache von beinahe mystischer Bedeutung. Diese Beziehungen besitzen nun auch, in einer bisher nie geahnten Weise, Geltung für alle hohen Kulturen.
Jede Kultur,
jede Frühzeit, jeder Aufstieg und Niedergang, jede ihrer innerlich notwendigen Stufen und Perioden hat eine bestimmte, immer gleiche, immer mit dem Nachdruck eines Symbols wiederkehrende Dauer
. In diesem Buche muß darauf verzichtet werden, diese Welt geheimnisvollster Zusammenhänge zu erschließen, aber die im folgenden immer wieder aufleuchtenden Tatsachen werden verraten, was alles hier verborgen liegt. Was bedeutet die in allen Kulturen auffallende 50jährige Periode im Rhythmus des politischen, geistigen, künstlerischen Werdens? [Ich mache hier nur auf den Abstand der drei Punischen Kriege und auf die ebenfalls rein rhythmisch zu begreifende Reihe des spanischen Erbfolgekrieges, der Kriege Friedrichs des Großen, Napoleons, Bismarcks und des Weltkriegs aufmerksam; vgl. Bd. II, S. 1047 Anm. Das seelische Verhältnis zwischen Großvater und Enkel hängt damit zusammen. Daher stammt die Überzeugung primitiver Völker, daß die Seele des Großvaters im Enkel zurückkehre, und die verbreitete Sitte, dem Enkel den
Namen
des Großvaters zu geben, der mit seiner mystischen Kraft dessen Seele wieder in die Körperwelt bannt.] Was die 300jährigen Perioden des Barock, der Ionik, der großen Mathematiken, der attischen Plastik, der Mosaikmalerei, des Kontrapunkts, der galileischen Mechanik? Was bedeutet die
ideale
Lebensdauer von einem Jahrtausend für jede Kultur im Vergleich zu der des Einzelnen, dessen »Leben 70 Jahre währt«?
Wie Blätter, Blüten, Zweige, Früchte in ihrer Gestalt, Tracht und Haltung ein Pflanzendasein zum Ausdruck bringen, so tun es die religiösen, gelehrten, politischen, wirtschaftlichen Bildungen im Dasein einer Kultur. Was etwa für Goethes Individualität eine Reihe so verschiedenartiger Äußerungen wie der Faust, die Farbenlehre, der Reinecke Fuchs, Tasso, Werther, die Reise nach Italien, die Liebe zu Friederike, der west-östliche Divan und die römischen Elegien waren, das bedeuten für die Individualität der Antike die Perserkriege, die attische Tragödie, die Polis, das Dionysische so gut wie die Tyrannis, die ionische Säule, die Geometrie Euklids, die römische Legion, die Gladiatorenkämpfe und das »
panem et circenses
« der Kaiserzeit.
In diesem Sinne wiederholt nun auch mit tiefster Notwendigkeit jedes irgendwie bedeutende Einzeldasein alle Epochen der Kultur, welcher es angehört. In jedem von uns erwacht das Innenleben – in jenem entscheidenden Augenblick, von dem an man weiß, daß man ein Ich ist – dort und so, wie einst die Seele der ganzen Kultur erwachte. Jeder von uns Menschen des Abendlandes erlebt als Kind seine Gotik, seine Dome, Ritterburgen und Heldensagen, das »
Dieu le veut
« der Kreuzzüge und das Seelenleid des jungen Parzival in wachen Träumen und Kinderspielen noch einmal. Jeder junge Grieche hatte sein homerisches Zeitalter und sein Marathon. In Goethes Werther, dem Bild einer Jugendwende, die jeder faustische, aber kein antiker Mensch kennt, taucht die Frühzeit Petrarcas und des Minnesangs noch einmal auf. Als Goethe den Urfaust entwarf, war er Parzival. Als er den ersten Teil abschloß, war er Hamlet. Erst mit dem Zweiten Teil wurde er der Weltmann des 19. Jahrhunderts, welcher Byron verstand. Selbst das Greisentum, jene grillenhaften und unfruchtbaren Jahrhunderte des spätesten Hellenismus, die »zweite Kindheit« einer müden, blasierten Intelligenz, ist an mehr als einem großen Greise der Antike zu studieren. In den Bacchen des Euripides ist viel vom Lebensgefühl, in Platos Timaios viel von dem religiösen Synkretismus der Kaiserzeit vorweggenommen. Und Goethes zweiter Faust, Wagners Parsifal verraten im voraus, welche Gestalt
unser
Seelentum in den nächsten, den
letzten schöpferischen
Jahrhunderten annehmen wird.
Als
Homologie der Organe
bezeichnet die Biologie deren
morphologische
Gleichwertigkeit im
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