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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Formen noch chaotisch durcheinander, abhängig von Stammessitte und äußerer Notdurft oder Zweckmäßigkeit. Jede Kultur aber erhebt alsbald eine von ihnen zum höchsten symbolischen Range. Hier wählte der antike Mensch aus tiefstem, unbewußtem Lebensgefühl heraus die
Totenverbrennung
, einen Akt der Vernichtung, durch den er sein an das Jetzt und Hier gebundenes euklidisches Dasein zu gewaltigem Ausdruck brachte. Er
wollte
keine Geschichte, keine Dauer, weder Vergangenheit noch Zukunft, weder Sorge noch Auflösung, und er
zerstörte
deshalb, was keine Gegenwart mehr besaß, den
Leib
eines Perikles und Cäsar, Sophokles und Phidias. Die Seele aber trat in die
formlose
Schar ein, welcher die schon früh vernachlässigten Ahnenkulte und Seelenfeste der lebenden Glieder eines Geschlechts galten und welche den stärksten Gegensatz zur Ahnen
reihe
, zum
Stammbaum
bildet, der mit allen Zeichen geschichtlicher Ordnung in den Familiengrüften abendländischer Geschlechter verewigt ist. Keine zweite Kultur steht der antiken darin zur Seite [Auch der chinesische Ahnendienst hat die
genealogische
Ordnung mit einem strengen Zeremoniell umgeben. Aber während er allmählich zum Mittelpunkt der gesamten Frömmigkeit wird, tritt der antike vor den Kulten der gegenwärtigen Götter ganz in den Hintergrund und ist in Rom kaum noch vorhanden gewesen.] – mit einer bezeichnenden Ausnahme, der vedischen Frühzeit Indiens. Und man bemerke wohl: die dorisch-homerische Frühzeit umgab diesen Akt mit dem ganzen Pathos eines eben geschaffenen Symbols, die Ilias vor allem, während in den Gräbern von Mykene, Tiryns, Orchomenos die Toten, deren Kämpfe vielleicht gerade den Keim zu jenem Epos gelegt hatten, nach beinahe ägyptischer Art bestattet worden waren. Als in der Kaiserzeit neben die Aschenurne der Sarkophag, der »Fleischverschlinger« [Mit deutlichem Hinweis auf die »Auferstehung
des Fleisches
« εχ νεχρων). Die tiefe, heute noch kaum begriffene Wandlung in der Bedeutung dieses Wortes um das Jahr 1000 kommt mehr und mehr in dem Worte »Unsterblichkeit« zum Ausdruck. Mit der todüberwindenden Auferstehung beginnt die Zeit im Weltraum gleichsam von neuem. Mit der Unsterblichkeit überwindet sie den Raum.] trat – bei Christen, Juden
und Heiden
–, war ein neues
Zeitgefühl
erwacht, genau wie damals, als auf die mykenischen Schachtgräber die homerische Urne folgte.
    Und die Ägypter, welche ihre Vergangenheit so gewissenhaft im Gedächtnis, in Stein und Hieroglyphen aufbewahrten, daß wir heute noch, nach vier Jahrtausenden, die Regierungszahlen ihrer Könige bestimmen können, verewigten auch deren Leib, so daß die großen Pharaonen – ein Symbol von schauerlicher Erhabenheit – mit jetzt noch erkennbaren Gesichtszügen in unsern Museen liegen, während von den Königen der dorischen Zeit nicht einmal die Namen übrig geblieben sind. Wir kennen Geburts- und Todestag fast aller großen Menschen seit Dante genau. Das scheint uns selbstverständlich. Aber zur Zeit des Aristoteles, auf der Höhe antiker Bildung, wußte man nicht mehr sicher, ob Leukippos, der Begründer des Atomismus und Zeitgenosse des Perikles – kaum ein Jahrhundert vorher –
überhaupt gelebt habe
. Dem würde es entsprechen, wenn wir der Existenz Giordano Brunos nicht gewiß wären und die Renaissance bereits völlig im Reich der Sage läge.
    Und diese Museen selbst, in denen wir die ganze Summe der sinnlich-körperlich gewordenen und gebliebenen Vergangenheit zusammentragen! Sind sie nicht auch ein Symbol vom höchsten Range? Sollen sie nicht den »Leib« der gesamten Kulturentwicklung mumienhaft konservieren? Sammeln wir nicht, wie die unzähligen Daten in Milliarden gedruckter Bücher, so
alle Werke aller
toten Kulturen in diesen hunderttausend Sälen westeuropäischer Städte, wo in der Masse des Vereinigten jedes einzelne Stück dem flüchtigen Augenblick seines wirklichen Zweckes – der einer antiken Seele
allein
heilig gewesen wäre – entwendet und in einer unendlichen Bewegtheit der Zeit gleichsam aufgelöst wird? Man bedenke, was die
Hellenen
»Museion« nannten und welch tiefer Sinn in diesem Wandel des Wortgebrauchs liegt.
14
    Es ist das
Urgefühl der Sorge
, das die Physiognomie der abendländischen wie der ägyptischen und chinesischen Geschichte beherrscht und auch noch die Symbolik des Erotischen gestaltet, in dem sich das Dahinströmen nie endenden Lebens im Bilde der Geschlechterfolgen von Einzelwesen darstellt. Das

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