Der Untergang des Abendlandes
wie vor dem Bilde des einst Geschehenen nur durchleben, und zwar mit jener erschütternden, wortlosen Gewißheit, welche die echte Tragödie im unkritischen Zuschauer weckt. Schicksal und Zufall bilden jederzeit einen Gegensatz, in den die Seele zu kleiden versucht, was
nur
Gefühl,
nur
Erlebnis und Schauen sein kann und was allein durch die innerlichsten Schöpfungen von Religion und Kunst denen verdeutlicht wird, die zur Einsicht
berufen
sind. Um dies Urgefühl des lebendigen Daseins, das dem Weltbilde der Geschichte Sinn und Gehalt verleiht, heraufzurufen – Name ist Schall und Rauch –, weiß ich nichts Besseres als eine Strophe von Goethe, dieselbe, die an der Spitze dieses Buches dessen Grundgesinnung bezeichnen soll:
Wenn im Unendlichen dasselbe
Sich wiederholend ewig fließt,
Das tausendfältige Gewölbe
Sich kräftig ineinander schließt;
Strömt Lebenslust aus allen Dingen,
Dem kleinsten wie dem größten Stern,
Und alles Drängen, alles Ringen
Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.
An der Oberfläche des »Weltgeschehens herrscht das
Unvorhergesehene
. Es haftet als Merkmal an jedem Einzelereignis, jeder Einzelentscheidung, jeder Einzelpersönlichkeit. Niemand hat beim Auftreten Mohammeds den Sturm des Islam, niemand beim Sturze Robespierres Napoleon vorausgewußt. Daß große Menschen kommen, was sie unternehmen, ob es ihnen glückt – alles das ist unberechenbar; niemand weiß, ob eine mächtig einsetzende Entwicklung sich in großer Linie vollendet wie die des römischen Adels, oder im Verhängnis untergeht wie die der Hohenstaufen und der ganzen Mayakultur, und ebenso steht es, aller Naturwissenschaft zum Trotz, mit den Schicksalen jeder einzelnen Tier- und Pflanzenart innerhalb der Erdgeschichte und weit darüber hinaus mit denen der Erde selbst und aller Sonnensysteme und Milchstraßen. Der unbedeutende Augustus hat Epoche gemacht, der große Tiberius ging wirkungslos vorüber. Und nicht anders erscheint uns das Geschick von Künstlern, Kunstwerken und Kunstformen, von Dogmen und Kulten, Theorien und Erfindungen. Daß in den Wirbeln des Werdens ein Element nur ein Schicksal erlitt und ein andres zum Schicksal wurde und oft genug für alle Zukunft, so daß jenes im Wellenschlag der historischen Oberfläche dahinschwand, dieses aber Geschichte schuf, das ist mit keinem Darum und Deshalb zu erklären und doch von innerster Notwendigkeit. Und deshalb gilt auch vom Schicksal, was Augustinus in einem tiefen Augenblick von der Zeit gesagt hatte:
Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio.
So ist die
Idee der Gnade
im abendländischen Christentum, der durch den Opfertod Jesu erwirkten Gnade, frei wollen zu dürfen, [Vgl. Bd. II, S. 851 f., 918.] welche Zufall und Schicksal in der höchsten ethischen Fassung zum Ausdruck bringt. Fügung (Erbsünde) und Gnade – in dieser Polarität, die immer nur Gestalt des Gefühls, des bewegten Lebens, nie Inhalt gelehrter Erfahrung sein kann, hegt das Dasein jedes wirklich bedeutenden Menschen dieser Kultur beschlossen. Sie ist, auch für den Protestanten, auch für den Atheisten, und sei sie noch so gut hinter dem Begriff der naturwissenschaftlichen »Entwicklung« versteckt, der in gerader Linie von ihr abstammt, [Der Weg von Calvin zu Darwin ist in der englischen Philosophie leicht nachzuweisen.] die Grundlage jeder Beichte, jeder Autobiographie, die, geschrieben oder gemalt, deshalb dem antiken Menschen, dessen Schicksal von andrer Gestalt war, versagt blieb. Sie ist der letzte Sinn der Selbstbildnisse Rembrandts und der Musik von Bach bis Beethoven. Mag man es Fügung, Vorsehung, innere Entwicklung [Dies gehört zu den ewigen Streitpunkten der abendländischen Kunsttheorie. Die antike, ahistorische, euklidische Seele hat keine »Entwicklung«, die abendländische erschöpft sich in ihr; sie ist »Funktion« in Richtung auf einen Abschluß. Die eine »ist«, die andre »wird«. Mithin setzt alle antike Tragik die Konstanz der Person voraus, alle abendländische deren Variabilität. Erst dies ist »Charakter« in unserm Sinne, eine Gestalt des Seins, die in unablässiger Bewegtheit und unendlichem Beziehungsreichtum besteht.
Bei Sophokles adelt die große Geste das Leid, bei Shakespeare adelt die große Gesinnung die Tat.
Weil unsre Ästhetik ihre Beispiele ohne Unterschied aus beiden Kulturen nahm, konnte sie das grundlegende Problem nur verfehlen.] nennen, was den Lebensläufen aller Menschen des Abendlandes etwas Verwandtes gibt – dem
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