Der Untergang des Abendlandes
schwierig ist, sich von der Natur, der kausal geordneten Umwelt andrer eine genaue Vorstellung zu machen, obwohl in ihr das spezifisch Erkennbare zum mitteilbaren System vereinheitlicht ist, so ist es völlig unmöglich, den historischen Weltaspekt fremder Kulturen, das aus ganz anders angelegten Seelen gestaltete Bild des Werdens mit den Kräften der eignen Seele vollkommen zu durchdringen. Hier wird immer ein unzugänglicher Rest bleiben, um so größer, je geringer der eigne historische Instinkt, der physiognomische Takt, die eigne Menschenkenntnis ist. Trotzdem ist die Lösung
dieser
Aufgabe eine Voraussetzung allen tieferen Weltverständnisses. Die historische Umwelt der andern ist ein
Teil ihres Wesens
, und man versteht niemand, wenn man sein Zeitgefühl, seine Idee vom Schicksal, den Stil und Bewußtseinsgrad seines Innenlebens nicht kennt. Was hier sich nicht unmittelbar in Bekenntnissen auffinden läßt, müssen wir also der Symbolik der äußern Kultur entnehmen. So erst wird das an sich Unbegreifliche zugänglich, und dies gibt dem historischen Stil einer Kultur und den dazu gehörigen großen Zeitsymbolen ihren unermeßlichen Wert.
Als eines dieser kaum je begriffenen Zeichen war schon die
Uhr
genannt worden, eine Schöpfung hochentwickelter Kulturen, die immer geheimnisvoller wird, je mehr man darüber nachdenkt. Die antike Menschheit verstand sie zu entbehren – nicht ohne Absichtlichkeit; sie hat weit über Augustus hinaus die Tageszeit nach der Schattenlänge des eignen Körpers abgeschätzt, [Diels, Antike Technik (1920), S. 159.] obwohl Sonnen- und Wasseruhren in den beiden älteren Welten der ägyptischen und babylonischen Seele im Zusammenhang mit einer strengen Zeitrechnung und mit einem tiefen Blick auf Vergangenheit und Zukunft ständig in Gebrauch waren. [Gelehrte Kreise in Attika und Ionien haben etwa seit 400 kunstlose Sonnenuhren konstruiert; seit Plato kommt daneben eine noch primitivere Klepsydra in Aufnahme, aber beide Formen in Nachahmung weit überlegener Muster des alten Ostens und ohne das antike Lebensgefühl irgendwie zu berühren; vgl. Diels, S. 160 ff.] Aber das antike Dasein, euklidisch, beziehungslos, punktförmig, war im gegenwärtigen Moment völlig beschlossen. Nichts sollte an Vergangenes und Künftiges mahnen. Die
Archäologie
fehlt der echten Antike ebenso wie deren
seelische Umkehrung, die Astrologie
. Die antiken Orakel und Sibyllen wollen ebensowenig wie die etruskisch-römischen Haruspices und Auguren die ferne Zukunft erkunden, sondern für den
einzelnen, unmittelbar bevorstehenden
Fall eine Weisung geben. Und ebensowenig gab es eine in das Alltagsbewußtsein gedrungene Zeitrechnung, denn die Olympiadenrechnung war lediglich ein literarischer Notbehelf. Es kommt nicht darauf an, ob ein Kalender gut oder schlecht ist, sondern für wen er im Gebrauch ist, ob das Leben der Nation danach läuft. In antiken Städten erinnert nichts an die Dauer, an die Vorzeit, an das Bevorstehende, keine pietätvoll gepflegte Ruine, kein für noch ungeborne Geschlechter vorgedachtes Werk, kein trotz technischer Schwierigkeiten mit Bedeutung gewähltes Material. Der dorische Grieche hat die mykenische Steintechnik unbeachtet gelassen und baute wieder in Holz und Lehm, trotz des mykenischen und ägyptischen Vorbildes und trotz des Reichtums seiner Landschaft an den besten Gesteinen. Der dorische Stil ist ein Holzstil. Noch zur Zeit des Pausanias sah man am Heraion in Olympia die letzte nicht ausgewechselte Holzsäule. In einer antiken Seele ist das eigentliche Organ für Geschichte, das
Gedächtnis
in dem hier stets vorausgesetzten Sinne, welches das Bild der persönlichen und dahinter das der nationalen und weltgeschichtlichen Vergangenheit [Für uns durch die christliche Zeitrechnung und das Schema Altertum – Mittelalter – Neuzeit geordnet: auf dieser Grundlage haben sich seit den Frühtagen der Gotik auch Bilder der Religions- und Kunstgeschichte entwickelt, in denen eine große Zahl abendländischer Menschen beständig lebt. Das gleiche für Plato oder Phidias vorauszusetzen – während es schon für Renaissancekünstler im höchsten Grade gilt und ihre Werturteile vollständig beherrscht hat – ist ganz unmöglich.] und den Gang des eignen und nicht nur eignen Innenlebens immer gegenwärtig erhält, nicht vorhanden. Es gibt keine »Zeit«. Für den Geschichtsbetrachter erhebt sich gleich hinter der eignen Gegenwart ein zeitlich und also innergeschichtlich nicht mehr
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