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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Das ist die faustische gegenüber der apollinischen Art zu leiden. Sophokles hatte auch ein Laokoondrama geschrieben. Ohne Zweifel war in ihm von
reinem Seelenleid
nicht die Rede. Antigone geht als Leib zugrunde, weil sie den Leib ihres Bruders bestattet hat. Man braucht die Namen Aias und Philoktet nur zu nennen und daneben die des Prinzen von Homburg und des Goetheschen Tasso, um den Unterschied zwischen Größe und Beziehung bis in die Tiefen der künstlerischen Schöpfung hinein zu spüren.
    Wir nähern uns damit einem andern Zusammenhang von großer Symbolik. Man nennt das Drama des Abendlandes ein
Charakterdrama
und sollte das antike dann als
Situationsdrama
bezeichnen. Man betont damit, was eigentlich von dem Menschen beider Kulturen als Grundform seines Lebens empfunden und mithin durch die Tragik, das Schicksal in Frage gestellt wird. Sagt man für die Pachtung des Lebens
Nichtumkehrbarkeit
, versenkt man sich in den furchtbaren Sinn des Wortes »zu spät«, mit dem ein flüchtiges Stück Gegenwart der
ewigen
Vergangenheit anheimgefallen ist, so spürt man den Urgrund jeder tragischen Wendung. Die
Zeit
ist das Tragische, und dem gefühlten Sinne der Zeit nach unterscheiden sich die einzelnen Kulturen. Deshalb hat sich eine Tragödie großen Stils nur in den beiden entwickelt, welche die Zeit am leidenschaftlichsten bejahten oder verneinten. Wir haben eine antike Tragödie des
Augenblicks
und eine abendländische der
Entwicklung ganzer Lebensläufe
vor uns. So empfand eine ahistorische und eine extrem historische Seele sich selbst. Unsere Tragik entstand aus dem Gefühl einer
unerbittlichen Logik des Werdens. Der Grieche fühlte das Alogische, das blinde Ungefähr des Moments.
Das Leben König Lears reift innerlich einer Katastrophe entgegen; das des Königs Ödipus stößt unversehens auf eine äußere Lage. Und man begreift nun, weshalb gleichzeitig mit dem abendländischen Drama eine mächtige Porträtkunst – mit ihrem Höhepunkt in Rembrandt – aufblühte und erlosch, eine Art historischer und biographischer Kunst, die
deshalb
im klassischen Griechenland zur Blütezeit des attischen Theaters aufs strengste verpönt war; man denke an das Verbot ikonischer Statuen bei den Weihgeschenken und daran, daß sich – seit Demetrios von Alopeke (um 400) – eine schüchterne Art idealisierender Bildniskunst genau damals hervorwagte, als die große Tragödie durch die leichten Gesellschaftsstücke der »mittleren Komödie« in den Hintergrund gedrängt wurde. Im Grunde tragen alle griechischen Statuen eine gleichförmige Maske wie die Schauspieler im Dionysostheater. Alle bringen sie
somatische
Haltungen und Lagen in denkbar strengster Fassung zum Ausdruck. Physiognomisch sind sie
stumm
, körperlich sind sie
notwendig nackt
. Charakterköpfe bestimmter Einzelpersonen, und zwar nach dem Leben, hat erst der Hellenismus aufgebracht. Und wir werden wieder an die beiden entsprechenden Zahlenwelten erinnert, in deren einer handgreifliche Resultate errechnet wurden, während in der andern der Charakter von Beziehungsgruppen von Funktionen, Gleichungen, überhaupt von Formelementen gleicher Ordnung morphologisch untersucht und als
solcher
in gesetzmäßigen Ausdrücken fixiert wird.
13
    Die Fähigkeit, gegenwärtige Geschichte zu erleben, und die Art, wie sie, wie vor allem auch das
eigne
Werden durchlebt wird, ist bei den einzelnen Menschen sehr verschieden.
    Jede Kultur besitzt schon eine durchaus individuelle Art, die Welt als
Natur
zu sehen, zu erkennen oder, was dasselbe ist, sie
hat
ihre eigne und eigentümliche Natur, die keine andere Art Mensch in genau derselben Gestalt besitzen kann. Aber in noch viel höherem Maß hat jede Kultur und in ihr, mit Unterschieden geringeren Grades, jeder Einzelne eine durchaus eigne Art von Geschichte, in deren Bilde, in deren Stil er das allgemeine und das persönliche, das innere und äußere, das welthistorische und das biographische Werden unmittelbar anschaut, fühlt und erlebt. So ist der autobiographische Hang der abendländischen Menschheit, wie er im Symbol der Ohrenbeichte schon in gotischer Zeit ergreifend hervortritt, [Vgl. Bd. II, S. 918f.] der antiken völlig fremd. Der äußersten Bewußtheit der Geschichte Westeuropas steht die beinahe traumhafte Unbewußtheit der indischen gegenüber. Und was war es, das magische Menschen von den Urchristen bis zu den Denkern des Islam vor sich sahen, wenn sie das Wort Weltgeschichte aussprachen? Aber wenn es schon sehr

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