Der untröstliche Witwer von Montparnasse
zu Abend gegessen.«
»Heute ist Dienstag, ich habe mein königliches Gratin gemacht. Soll ich dir davon was warm machen?«
Eine Viertelstunde später schaufelte sich Louis zufrieden und entspannt eine große Portion auf den Teller. Daß die Meuterer die Straßen überwachten, beruhigte ihn. Aber Vandoosler der Ältere hatte recht. Wenn es sich um den dritten Mann handelte, dann würden sie ihn nicht bemerken. Es sei denn, der Mörder unternahm mehrere Abende lang Erkundungsgänge. Es waren sehr kleine Straßen, eine sogar eher eine Gasse. Es wäre ein leichtes, alle Anwohner und regelmäßigen Besucher zu informieren. Aber es war nun unabdingbar, daß Loisel auf den Plan trat.
»Sind sie bewaffnet?«
»Gestern sind sie mit bloßen Händen losgezogen. Heute abend habe ich ihnen geraten, sich ein bißchen auszurüsten.«
»Deine Knarre?«
»Bloß nicht. Sie wären in der Lage, sich eine Kugel durchs Knie zu jagen. Lucien hat den Stockdegen seines Urgroßvaters mitgenommen ...«
»Sehr unauffällig.«
»Ihm lag viel daran, du weißt, wie er ist. Mathias hat ein Opinel-Messer, nur Marc hat nichts mitnehmen wollen. Messer widern ihn an.«
»Damit sind sie ja wirklich gut ausgerüstet«, seufzte Louis. »Wenn es hart auf hart kommt ...«
»Sie sind nicht so wehrlos, wie du denkst. Lucien hat seine Inbrunst, Mathias seine Tugend und Marc seine Finesse. Das ist gar nicht so schlecht, vertrau meiner Erfahrung als alter Bulle.«
»Wann kommen sie nach Hause?«
»Gegen zwei Uhr morgens.«
»Dann warte ich hier auf sie, wenn dich das nicht stört.«
»Ganz im Gegenteil, du kannst meine Wache übernehmen. Und mach dir ein kleines Feuer im Kamin, Deutscher, du holst dir sonst noch den Tod in deinen nassen Klamotten.«
37
Spät am Mittwoch vormittag durchschritt Louis das Eingangstor des Friedhofs von Montparnasse. Durch den Regen vom Vortag hatte es ein wenig abgekühlt, und die aufgeweichten Wege des Friedhofs rochen nach Erde und Linden. In der Nacht hatte Louis bis halb drei auf die Rückkehr der Evangelisten gewartet. Gegen elf hatte Vandoosler der Ältere Marthe nach Hause gebracht. Clement hatte sie nicht gerne weggehen sehen und seinen Kopf an ihre Stirn gelegt, sie hatte ihm durchs Haar gestrichen.
»Dusch noch, bevor du ins Bett gehst«, hatte sie ihm leise gesagt. »Es ist wichtig, auf das Duschen zu achten.«
Louis hatte sich gedacht, Marthe wäre gut geeignet, mit Moral genähte Sohnschützer zu erfinden, ganz wie die Mutter des ›Schnitters‹. Dann war er allein vor dem Holzfeuer zurückgeblieben, hatte in die Flammen gestarrt und unaufhörlich an den Scherenmörder gedacht. Merkwürdigerweise gingen ihm die ganze Zeit nur drei Bilder durch den Kopf: die Zeichnung der vierzigfach vergrößerten Fliege des Mörders, das baskische Huhn von Lucien und der Fuß des Furchtsamen Patissiers, der Kreise ins Mehl zeichnete. Er war müde, ganz ohne Zweifel. Dann hatte Lucien mit seinem Degen lärmend Einzug gehalten. Keiner der drei Männer hatte in den Straßen irgend etwas bemerkt.
Mit einer Flasche Sancerre in der Hand durchquerte Louis gemächlich den Friedhof, ohne den ›Schnitter‹ zu entdecken. Die Hütte war leer. Er besah sich den anderen Teil des Friedhofs, jenseits der Rue Emile-Richard, aber ohne Erfolg. Leicht beunruhigt ging er zum Eingang zurück und erkundigte sich beim Wärter.
»Es ist wirklich das erste Mal, daß jemand nach ihm fragt«, brummelte der Wärter abweisend. »Er ist heute morgen nicht gekommen. Worum geht's? Wenn Sie seinen Durst löschen wollen«, sagte er und zeigte auf die Flasche, »lassen Sie sich nur Zeit. Er schläft sicher gerade irgendwo seinen Rausch aus.«
»Kommt das öfter vor?«
»Nein, nie«, erwiderte der Wärter. »Muß krank sein. Entschuldigen Sie, ich muß meine Runde machen. Bei all den Verrückten, die sich hier rumtreiben.«
Louis ging die Straße entlang. Er machte sich allmählich Sorgen. Jetzt, wo der ›Schnitter‹ abgehauen war, begann die Situation auf allen Ebenen seiner Kontrolle zu entgleiten. Er mußte dringend Loisel benachrichtigen. Louis stieg in einen Bus in Richtung Montrouge und lief dort eine ganze Weile durch die grauen Straßen, bevor er die Bude des ›Schnitters‹ fand. Von dem kleinen Gebäude, das zwischen einem unbebauten, verwilderten Grundstück und einem Café mit undurchsichtigen Scheiben eingezwängt stand, bröckelte der Putz in großen Placken herab. Eine Nachbarin sagte ihm, wo Thevenin sein Zimmer
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