Der untröstliche Witwer von Montparnasse
demjenigen, der das Mädchen festgehalten hat. Dem Voyeur.«
»Großartig«, wiederholte Louis.
Erneut legte sich lastende Stille über den Raum. Louis drehte ein kleines Holzstück zwischen den leicht zitternden Fingern, und Clairmont betrachtete seine Füße. Als Louis sich zur Tür wandte, warf der Bildhauer ihm einen verschreckten Blick zu.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Louis, ohne sich umzudrehen. »Paul wird nicht erfahren, auf welch würdevolle Weise Sie sich um seine Freundin gekümmert haben. Es sei denn, Sie hätten mich belogen.«
Mit zusammengebissenen Zähnen, die Hände ins Lenkrad gekrallt, raste Louis die Rue de Rennes hoch, nahm einem Bus die Vorfahrt und fuhr weiter zum Friedhof von Montparnasse. Erst als er den Wagen in der Rue Froidevaux abstellte und ein schwerer Gewitterregen die Windschutzscheibe unter Wasser zu setzen begann, wurde ihm klar, daß es schon nach acht und das Tor des Friedhofs längst verschlossen war. Ohne Marc hatte er keinerlei Möglichkeit, über die Mauer zu klettern. Louis seufzte. Marc suchen, um zu klettern, Marc suchen, um zu zeichnen, Marc suchen, um zu rennen. Aber Marc hatte sich ostentativ in eine andere Epoche verdrückt, und Louis bezweifelte, daß er ihn an diesem Abend aus der Bruchbude würde loseisen können.
Auf der Avenue du Maine begann der Motor zu stottern, und Louis warf einen Blick auf die Tankanzeige. Kein Benzin mehr. Er ließ den Wagen unweit der Tour Montparnasse ausrollen. Er war nach Nevers und wieder zurück gefahren, ohne sich ums Tanken zu kümmern. Er schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett, stieg fluchend aus und schob den Wagen langsam an die Bordsteinkante. Dann nahm er seine Tasche aus dem Auto und warf die Tür zu. Es goß jetzt wie aus Kübeln. Er lief so schnell er konnte bis zum Platz und in den Metro-Eingang. Es war gut und gern ein halbes Jahr her, daß er zum letzten Mal Metro gefahren war, und er mußte zunächst einen Plan suchen, um den Weg bis zur Rue Chasle herauszufinden.
Am Bahnsteig zog er vorsichtig seine Jacke aus, um seiner in der Tasche dösenden Kröte nicht weh zu tun, die sich entgegen Marcs Hoffnungen nicht voller Begeisterung Richtung Loire-Ufer davongemacht hatte. In Wirklichkeit machte Bufo nie etwas voller Begeisterung. Sie war eben eine besonnene Amphibie.
Louis stieg in den Zug, schüttelte die Nässe ab und setzte sich schwerfällig auf einen Klappsitz. Der Lärm des Zuges übertönte die gräßlichen Worte des alten Clairmont, und das war für zehn Minuten auch gut so. Er hatte sich zusammenreißen müssen, um ihn nicht in seinen Sägemehlhaufen zu schmeißen. Es war auch gut, daß der Friedhof schon geschlossen gewesen war. Er war sich nicht sicher, ob das Sohnschützer-Deckchen dem ›Schnitter‹ heute abend viel genutzt hätte. Louis atmete tief durch und richtete dann den Blick auf eine Mitreisende mit klatschnassen Haaren, ein Werbeplakat und schließlich ein arabisches Gedicht aus dem 9. Jahrhundert, das an der Rückfront des Wagens hing. Er las es aufmerksam von der ersten bis zur letzten Zeile und versuchte, seine eher dunkle Bedeutung zu verstehen. Es ging um Hoffnung und Überdruß, und das kam seiner gegenwärtigen Stimmung sehr entgegen. Plötzlich erstarrte er. Was machte ein arabisches Gedicht aus dem 9. Jahrhundert in einem Metrowagen?
Louis sah sich das Plakat genauer an. Es war ordentlich in einem Metallrahmen neben der Werbung angebracht. Zwei Strophen des Gedichts standen darauf, darunter der Name und die Lebensdaten des Autors. Unten dann das grünblaue Logo der Pariser Verkehrsbetriebe und der Slogan: Verse in Grün und Blau. Konsterniert stieg Louis an der nächsten Station aus und stieg in den zweiten Wagen. Dort fand er ein kleines Prosagedicht von Jacques Prevert. Er ging durch alle fünf Wagen und zählte fünf Gedichte. Er wartete auf den nächsten Zug und inspizierte die fünf Wagen. Zehn Gedichte. Er stieg um und besah sich die Wagen von zwei aufeinanderfolgenden Zügen. Als er an der Place d'Italie ausstieg, hatte er zwanzig Gedichte. Der arabische Gesang hatte sich viermal wiederholt, der Prevert dreimal.
Benommen setzte er sich auf eine Bank, die Ellbogen auf den Knien, das Gesicht in den Händen. Warum hatte er das nicht früher gewußt, verdammt? Aber er nahm ja nie die Metro. Verflucht noch mal. Da klebten sie Gedichte in die Züge, und er wußte es nicht. Seit wann mochte diese Aktion laufen? Ein halbes Jahr? Ein Jahr? Louis sah das eigensinnige
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