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Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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und leidenschaftliche Gesicht von Lucien vor sich. Lucien hatte recht. Es war kein intellektueller Quark, sondern eine furchtbare Möglichkeit. Alles kehrte sich um. Es ging nicht mehr um einen Mörder auf der Suche nach einem Gedicht, sondern um ein Gedicht, das den Weg eines Irren kreuzte. Eines Irren, der es in der Metro gelesen hatte, während er auf seinem Sitz saß, als ob es für ihn geschrieben worden wäre. Der es gelesen und wiedergelesen und darin ein »Zeichen«, einen »Schlüssel« gefunden hatte. Es war gar nicht mehr erforderlich, daß es sich bei dem Mörder um einen feinsinnigen, gebildeten Menschen handelte. Es genügte, daß er die Metro nahm, es genügte, daß er sich hinsetzte und einfach nur hinsah. Und daß der Text über ihn kam, als wollte das Schicksal ihm eine persönliche Nachricht überbringen.
    Louis stieg die Treppe hinauf und klopfte an die Scheibe des Fahrkartenschalters.
    »Polizei«, sagte er zu dem Verkäufer und zeigte seine alte Karte vom Ministerium. »Ich muß sofort einen Verantwortlichen für die Züge sprechen. Ganz egal welchen.«
    Verschüchtert sah der junge Mann auf Louis' durchnäßte Kleidung und gab angesichts der blauweißroten gestreiften Karte nach. Er schloß die schmale Zugangstür auf und ließ ihn in den kleinen Raum eintreten.
    »Gibt's unten Ärger?« fragte er.
    »Ärger, nein. Wissen Sie, seit wann die Pariser Verkehrsbetriebe Gedichte plakatieren? Ich meine das vollkommen ernst.«
    »Gedichte?«
    »Ja, in den Zügen. ›Verse in Grün und Blau‹.«
    »Ach, das?«
    Der junge Mann runzelte die Stirn.
    »Ich würde sagen, seit ein oder zwei Jahren. Aber warum ...«
    »Ein Mordfall. Ich brauche dringend Informationen zu einem ganz bestimmten Gedicht. Ich will wissen, ob es angeschlagen wurde, und wenn ja, wann. Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Verkehrsbetriebe müßte das wissen. Haben Sie ein internes Telefonbuch?«
    »Hier«, erwiderte der junge Mann, öffnete einen Metallschrank und zog einen ziemlich mitgenommenen Ordner heraus.
    Louis nahm hinter einem geschlossenen Schalter Platz und blätterte das Verzeichnis durch.
    »Aber da werden Sie um die Uhrzeit keinen antreffen«, wandte der junge Mann schüchtern ein.
    »Ich weiß«, erwiderte Louis müde.
    »Wenn es so dringend ist ...«
    Louis sah ihn an.
    »Haben Sie eine Idee?«
    »Ja, das heißt ... Also ... Ich könnte notfalls Ivan anrufen. Der klebt die Plakate ... und daher kennt er natürlich eine Menge davon. Es kann gut sein ...«
    »Los«, sagte Louis, »rufen Sie Ivan an.«
    Der junge Mann wählte eine Nummer.
    »Ivan? Ivan? Hier ist Guy, stell deinen verdammten Anrufbeantworter ab und geh ran, es ist dringend, ich ruf vom Schalter aus an!«
    Guy warf Louis einen entschuldigenden Blick zu. Dann hatte er plötzlich seinen Freund am Apparat.
    »Ivan, wir haben hier ein Problem. Es geht um eins deiner Plakate.«
    Einige Augenblicke später übernahm Louis den Hörer.
    »Um welches Gedicht geht es?« fragte Ivan. »Sehr gut möglich, daß ich mich dran erinnere.«
    »Soll ich's Ihnen aufsagen?«
    »Ich glaube, das wäre das Beste.«
    Jetzt war es an Louis, dem jungen Mann einen etwas verlegenen Blick zuzuwerfen. Er konzentrierte sich, um sich die vier Zeilen in Erinnerung zu rufen, die er sich am Tag zuvor mit Loisel angesehen hatte.
    »Gut«, sagte er und nahm wieder den Hörer. »Sind Sie noch dran?«
    »Ich höre zu.«
    Louis atmete tief ein.
    »Ich bin der Finstre, der Beraubte, der Untröstliche, der Fürst von Aquitanien, dessen Turm in Trümmer sank; mein Stern, mein einziger, ist tot, und das Sternbild meiner Laute zeigt die schwarze Sonne der Melancholie. Das Ganze ist von einem gewissen Gerard de Nerval und heißt El Desdichado. Wie es weitergeht, weiß ich nicht.«
    »Könnten Sie's mir noch mal wiederholen?«
    Louis wiederholte die Zeilen.
    »Ja«, sagte Ivan. »Das hat mal gehangen. Ich bin mir sicher.«
    »Wunderbar«, erwiderte Louis, die Hand um den Hörer gepreßt. »Können Sie sich zufällig erinnern, wann das war?«
    »Ich würde sagen, kurz vor Weihnachten. Kurz vor Weihnachten, denn ich hab noch gedacht, das ist ja nicht gerade ein sehr fröhlicher Text zum Fest.«
    »In der Tat.«
    »Aber dann bleiben die Plakate immer einige Wochen hängen. Da müßten Sie sich bei der Dienststelle erkundigen.«
    Louis dankte dem Plakatkleber herzlich. Dann versuchte er erfolglos, Loisel zu erreichen.
    »Nein, keine Nachricht«, erklärte er dem diensthabenden Polizisten. »Ich

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