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Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Lippenstift! Es war ein Knöchelchen-Spiel! Silbern und bordeauxrot, metallisch ... Der Mörder hat Knöchelchen gespielt! Die Streifen der Fingerspuren, Marc! Die Spuren auf dem Boden! Er hat gespielt! Er hat gespielt!«
    »Ich kann dir nicht folgen«, flüsterte Marc.
    »Das, was der Konditor beschrieben hat! Es war ein Knöchelchen-Spiel, das der Mörder in aller Eile aufgesammelt hat!«
    »Ich hab's kapiert. Aber warum willst du unbedingt, daß der Mörder eine kleine Partie auf dem Teppich gespielt hat?«
    »Wegen seiner Fliege, Marc, immer wegen dieser Fliege! Würfel, Knöchelchen, gewagte Einsätze, das sind Requisiten eines Verrückten! Er hat gespielt, um ein Zeichen des Schicksals zu erhalten, um den Mord zu heiligen, um die Götter auf seine Seite zu bringen, um sich das Glück zu sichern ...«
    »Der Glückswurf ...«, murmelte Marc. »›Der, nämlich der den Mann immer rettet‹ ... Also ... glaubst du ...daß Clement ...?«
    »Ich weiß es nicht, Marc. Hast du gesehen, wie geschickt er ist? Der Typ spielt seit Jahren. Er ist ein Meister, wie Vandoos sagen würde.«
    Ein Freudenschrei drang aus dem Refektorium.
    »Da«, sagte Louis. »Er hat es geschafft. Sag bloß nichts, laß dir nichts anmerken, beunruhige ihn nicht.«
    Mit großem Lärm stürmte Lucien zur Tür herein.
    »Halt's Maul«, sagte Marc prophylaktisch.
    »Was macht ihr denn hier im Dunkeln?« fragte Lucien.
    Marc zog ihn beiseite, und Louis ging ins Refektorium zurück.
    »Brechen wir auf«, sagte er zu Mathias.
    Strahlend und mit schweißnasser Stirn gab Clement Marthe die Knöchelchen.
     

38
     
    Julie Lacaize betrat ihre Erdgeschoßwohnung in der Rue de la Comete 5, im 7. Pariser Arrondissement.
    Ächzend stellte sie drei Taschen mit Einkäufen in der kleinen Küche ab, zog die Schuhe aus und ließ sich auf ihr Sofa fallen. Sie war müde von den acht Stunden Datenerfassung und blieb ein ganzes Weilchen liegen, während sie über die beste Möglichkeit nachdachte, um künftig die freitäglichen Arbeitsessen im Betrieb zu vermeiden. Dann schloß sie die Augen. Morgen, Samstag, Nichtstun. Sonntag vormittag dito. Nachmittag dito, oder vielleicht mit Robin ins Puppentheater gehen. Das Puppenspiel amüsiert Kinder und Menschen von Geist.
    Gegen acht schob sie sich ein Fertiggericht in den Ofen, telefonierte lange mit ihrer Mutter und schaltete dann den Anrufbeantworter ein. Gegen halb neun öffnete sie das Fenster, das auf den kleinen Hof hinausging, um den Rauch des gerade verbrannten Essens zu vertreiben. Gegen Viertel vor neun schlang sie ihr Abendessen hinunter, wobei sie versuchte, die verkohlte Kruste zu entfernen, während sie es sich mit dem Rücken zum geöffneten Fenster vor dem Fernseher bequem machte, wo eine Wiederholung der 55 Tage in Peking lief. Die frische Luft tat gut, aber das Licht zog dicke Stechmücken an, die sich in ihrem Haar verfingen.
     

39
     
    Marc, Lucien und Mathias trennten sich in der Metro und zogen jeder in seine Richtung los. An diesem Abend begleitete Louis Mathias in die Rue du Soleil. Sie waren in Zweifel geraten und hatten auf Marcs Vorschlag hin am Vortag noch einmal das Gedicht und den Stadtplan von Paris überprüft, aber sie waren sich ihrer Entscheidung sicher. Es würde die Rue de la Lune oder die Rue du Soleil sein, allenfalls vielleicht noch die Rue du Soleil d'or. Lucien neigte noch immer zur Rue de la Lune, wenn man akzeptieren konnte, daß der Mond als das Gestirn der Nacht und damit als Schwarze Sonne angesehen würde. Louis gab ihm recht, aber Marc bezweifelte das. Er wandte ein, daß der Mond nur durch das auf ihn projizierte Licht leuchtete, daß er nur ein toter Planet und somit das Gegenstück einer Sonne sei. Lucien wischte das Argument beiseite. Der Mond leuchtet, Punkt, aus, Schluß. Für die Rolle der Schwarzen Sonne gebe es keinen besseren Kandidaten als den Mond.
    Während der Metrofahrt las Marc das Gedicht, das am Ende des Wagens aufgehängt war, eine kleine Variation über die Weizenähren, in der er jedoch keinerlei Fingerzeig des Schicksals für seinen persönlichen Gebrauch entdecken konnte. Verärgert dachte er nochmals über Louis' Hypothese mit den Metallknöchelchen nach. Die Chance war groß, daß der Deutsche recht hatte, und das bereitete Marc Kummer. Denn dann deutete alles auf Clement. Seine Spielleidenschaft, seine - recht seltene - Freude an diesem Spiel, die fünf metallenen Knöchelchen, die er bei sich hatte, sein geschickter Umgang mit ihnen, dann

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