Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
schließlich sein leichtgläubiger, sicherlich abergläubischer Geist, abgesehen von allen anderen Verdachtsmomenten, die ihn belasteten und die jeder von ihnen seit zehn Tagen zu ignorieren vorgab.
    Schlurfenden Schrittes wechselte Marc den Bahnsteig. Er hatte den Trottel liebgewonnen. Aber wer garantierte, daß Clement wirklich so ein Trottel war? Und was bedeutete »Trottel« eigentlich genau? Auf seine Weise mangelte es Clement durchaus nicht an Feingefühl. Genausowenig wie an vielen anderen Dingen. Er war musikalisch. Er war geschickt. Er war aufmerksam. Er hatte in nicht einmal zwei Tagen die Kunst des Feuerstein-Zusammenklebens begriffen, und das war kein Kinderspiel. Nur das Gedicht hatte er noch nie gehört, davon hatte Lucien sich überzeugt. Und wenn Clement geschickt genug gewesen wäre, um Lucien zu täuschen?
    Marc stieg in den Wagen und blieb stehen, die Hand an der Stange, an der sich täglich dreitausend Hände von Metronutzern festhielten, um nicht auf die Schnauze zu fliegen. Marc hatte sich immer gefragt, warum es in den Wagen immer nur zwei von diesen Stangen gab und nicht mehr. Aber nein, das wäre ja zu einfach.
    Zwei Stangen.
    Zwei Knöchelchenspieler.
    Clement und ein anderer. Warum nicht? Clement war doch nicht allein auf der Welt, verdammt. Vielleicht gab es sogar Tausende von Knöchelchenspielern in Paris.
    Nein, bestimmt keine Tausende. Es war ein seltenes Spiel und völlig aus der Mode gekommen. Aber Marc brauchte nicht Tausende von Spielern, er wollte zwei, nur zwei. Clement und einen anderen.
    Marc runzelte die Stirn. Der ›Schnitter‹? Konnte der ›Schnitter‹ Knöchelchen spielen? Er hatte keine bei ihm gesehen, weder in seiner Tasche noch in der Hütte, aber was bewies das? Und dieser alte Dreckskerl von Clairmont?
    Marc schüttelte den Kopf. Weshalb sollten die beiden Typen Knöchelchen gespielt haben? Das ergab keinen Sinn.
    Natürlich ergab es einen Sinn. Sie hatten doch immerhin zusammen gewohnt, verdammt, damals im Institut von Nevers ... Und ein Spiel wird gelernt, wird weitergegeben, wird gemeinsam gespielt ... Was war da wahrscheinlicher, als daß die beiden Gärtner und der alte Clairmont abends bei einem von ihnen die Knöchelchen auf einen Tisch warfen? Clement konnte es ihnen ganz einfach beigebracht haben. Und er ...
    Und er ...
    Marc erstarrte, die Hand noch immer um die Stange geklammert.
    Verstört stieg er aus der Metro und ging mit unsicheren Schritten zur Rue du Soleil d'or.
    Und Clement ...
    Marc nahm seinen Wachposten an der Ecke der Gasse ein, wo er sich gegen eine Straßenlaterne lehnte. Über eine Stunde lang überwachte er mechanisch die Passanten, ging um die Laterne herum, lehnte sich ein paar Minuten an, nahm dann seinen Rundgang wieder auf, ging in einem Umkreis von fünf Metern auf und ab. Seine Gedanken verwirrten sich immer wieder, und er bemühte sich, sie zu glätten wie die Röcke von Madame Toussaint.
    Denn schließlich mußte Clement doch irgendwie ...
    Um neun verließ Marc seine Straßenlaterne, drehte sich unvermittelt um und rannte in die Avenue de Vaugirard. Er sah sich nach den vorbeifahrenden Autos um, entdeckte ein Taxi und stürzte winkend darauf zu. Und ausnahmsweise zeigte sein Arm einmal Wirkung. Der Wagen hielt an.
     

40
     
    Keine Viertelstunde später sprang Marc aus dem Taxi. Es war noch nicht dunkel, und ängstlich suchte er nach einem Versteck. Es gab nur einen geschlossenen Zeitungskiosk, damit mußte er klarkommen. Etwas außer Atem lehnte er sich an die Kioskwand und begann zu warten. Wenn er das jeden Abend machen müßte, dann sollte er ein weniger gewagtes Versteck finden. Louis' Auto zum Beispiel. Er wünschte sich sehnlichst, Louis anrufen zu können, aber der Deutsche war unerreichbar, er stand in Belleville an der Rue du Soleil. Beim Âne rotige anrufen und den Paten benachrichtigen? Und wenn Clement in der Zwischenzeit abhauen würde? Und wie konnte er das Risiko eingehen, sein Versteck zu verlassen, und sei es nur für ein paar Minuten? Es war keinerlei Telefonzelle in Sicht, außerdem hatte er auch keine Karte. Jämmerliche Vorbereitung der Truppen, hätte Lucien gesagt. Kanonenfutter, ein wahres Gemetzel.
    Marc erschauerte und zupfte mit den Zähnen an der Nagelhaut seiner Fingernägel.
    Als der Mann eine Dreiviertelstunde später auf die dunkle Straße trat, hatte Marc mit einem Schlag keine Angst mehr. Ihm ganz vorsichtig folgen. Nicht von ihm ablassen, ihn bloß nicht verlieren. Vielleicht ging er nur ins

Weitere Kostenlose Bücher