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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ortwin Ramadan
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1.
    Yoba lehnte mit dem Rücken an der Betonwand. Er genoss die Kühle hier unten. Oben würde es schon bald sehr heiß werden. Der Harmattan fegte seit Tagen über die Stadt und brachte mit dem Sand auch die Hitze aus der großen Wüste. Die unterirdische Zisterne war in der Trockenzeit ein wirklich guter Ort, fand Yoba. Eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass niemand ihnen den Platz bislang streitig gemacht hatte. Dabei waren gute Schlafplätze fast so selten wie ein voller Bauch.
    Plötzlich begann sein zwölfjähriger Bruder im Halbdunkeln leise zu wimmern. Er wälzte sich auf seinem Karton hin und her. Yoba beugte sich über ihn und berührte Chioke sanft an der Schulter.
    »Chi-Chi!«, flüsterte er. »Wach auf! Es ist nur ein Traum!«
    Chioke schreckte von seiner Schlafpappe hoch. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und er blickte sich ängstlich um. Yoba fuhr ihm aufmunternd durch die verfilzten Haare.
    »Hey, große Ibo-Krieger kennen keine Angst!«, sagte er. »Außerdem ist heute Freitag, schon vergessen? Tag der Löwenfütterung!«
    Yoba kroch auf Knien zur gegenüberliegenden Wand und fischte seinen kostbarsten Besitz aus einer Spalte zwischen den Steinen. Das Notizbuch war nagelneu. Als er es vor zwei Tagen im Müll gefunden hatte, war es noch in Folie eingeschweißt gewesen. Offenbar handelte es sich um ein achtlos weggeworfenes Werbegeschenk, denn auf dem grünen Einband prangte das Logo eines internationalen Ölkonzerns.
    Yoba steckte seinen Schatz in den Bund seiner zerschlissenen Baumwollhose. Danach schlüpfte er in seine ausgeleierten Plastikschlappen und sprang auf die Füße.
    »Na los, hoch mit dir!«
    Chioke ergriff die ausgestreckte Hand und ließ sich widerstandslos hochziehen. Besorgt musterte Yoba die blutigen Schnitte an den Füßen seines kleinen Bruders. Ein schlechtes Gewissen überkam ihn. Sein Bruder brauchte unbedingt Schuhe, denn die Straßen der Stadt waren voller Scherben. Yoba klopfte ihm den Sand von dem Stofffetzen, der einmal ein gelbes T-Shirt gewesen war.
    »Wenn ich in die Bruderschaft aufgenommen werde, kaufe ich dir weiße Adidas. Versprochen! Und zwar die echten – keine nachgemachten vom Ariaria-Markt. Na, was sagst du dazu? Freust du dich?«
    Chioke sah ihn teilnahmslos an. Yoba seufzte. Seit der schrecklichen Nacht im Dorf redete sein Bruder noch weniger als vorher. Er schien in einer anderen Welt gefangen zu sein und Yoba wusste nicht, wie er ihn von dort zurückholen konnte. Wenigstens waren die Narben auf der Brust seines Bruders gut verheilt. Das magische Zeichen würde er jedoch für immer auf seiner Haut tragen. Es würde ihn stets an die grauenhafte Zeremonie erinnern. Wütend darüber griff Yoba nach der in die Wand eingelassenen Metallleiter und kletterte aus der Zisterne. Chioke blieb unten und wartete.
    Trotz der frühen Morgenstunde war die Stadt längst erwacht. Überfüllte Minibusse, hupende Autos und unzählige knatternde Mopeds verstopften die Kreuzung an der Factory Road von Aba. Niemand beachtete den schlaksigen sechzehnjährigen Jungen, der auf dem zugemüllten Grundstück neben der Straße aus einem Loch in der staubigen Erde kroch. Yoba war das nur recht. Er blinzelte in die dunstige Morgensonne und sah sich vorsichtig um. Nachdem er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, pfiff er auf zwei Fingern das vereinbarte Zeichen. Gleichzeitig spuckte er fluchend aus. Der Sand in der Luft ließ das Atmen schon am frühen Morgen zur Qual werden.
    Als Chiokes Kopf in der Öffnung der Zisterne auftauchte, drängte Yoba seinen Bruder zur Eile. Sein leerer Magen brüllte vor Hunger. Dass es Chioke nicht viel besser ging, konnte er an den unnatürlich geweiteten Pupillen ablesen. Kein Wunder, ihre letzte gemeinsame Mahlzeit lag schon mehr als einen Tag zurück. Sie hatte lediglich aus einem knochenharten Stück Fladenbrot bestanden. Jetzt lief ihm allein bei dem Gedanken an Mama Kambinas köstliche Onugbo-Suppe das Wasser im Mund zusammen.
    Er fasste Chioke an der Hand und nahm am Rand des Grundstücks Aufstellung. Als in dem lärmenden Strom aus Mopeds, Autos und qualmenden Lastwagen endlich eine Lücke entstand, ging er zügig los und zog seinen Bruder hinter sich her über die mehrspurige Straße. Auf der anderen Seite schlängelten sie sich durch die Stände der kleinen Moped-Werkstätten, die ihr Geschäft direkt auf dem ölverschmierten Bürgersteig betrieben. Dann schlugen sie den Weg zum Gefängnis ein.

2.
    Adaeke kauerte vor dem Lehmofen

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