Der Väter Fluch
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Der Anruf kam von der Polizei. Nicht von Rinas Mann, dem Lieutenant, sondern von der richtigen Polizei. Sie hörte zu, während der Mann sprach, und als sie begriff, dass es nichts mit Peter oder den Kindern zu tun hatte, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Nachdem sie den Grund für diesen Anruf erfahren hatte, war Rina jedenfalls nicht so schockiert, wie sie es hätte sein sollen.
Schon in der Vergangenheit war die jüdische Bevölkerung im West Valley von Los Angeles von rassistischen Hassverbrechen erschüttert worden - Hate Crimes, die vor einigen Jahren darin gipfelten, dass eine Bestie von Mensch aus dem Linienbus stieg und das Jewish Convention Center zusammenschoss. Das jüdische Gemeindezentrum war seit jeher ein geistiger Zufluchtsort und Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Los Angeles gewesen und konnte mit einem reichhaltigen Angebot aufwarten, von der Kinderkrippe über Tanztherapie bis hin zu Gymnastikkursen für Senioren. Wundersamerweise war dort niemand getötet worden. Aber das Ungeheuer - das am selben Tag noch einen kaltblütigen Mord verüben sollte - verletzte mehrere Kinder und ließ das ganze Viertel in der lähmenden Angst zurück, dass so etwas jederzeit wieder passieren konnte. Seit dieser Zeit trafen viele der Juden von L. A. besondere Vorkehrungen, um ihre Familien und Einrichtungen zu schützen. Die Türen der Gemeindezentren und Synagogen wurden mit zusätzlichen Schlössern gesichert, und Rinas schul, ein kleines gemietetes Ladenlokal, war sogar so weit gegangen, den Aron ha-Kodesch mit einem Vorhängeschloss zu versehen - die heilige Lade, die die geweihten Thorarollen enthielt.
Die Polizei hatte Rina angerufen, weil ihre Nummer als Einzige auf dem Anrufbeantworter der schul angegeben war - nur für Notfälle. Sie fungierte als inoffizielle Hausverwalterin der Synagoge, die die Entscheidungen traf, wenn Handwerker wegen eines Rohrbruchs oder eines Lochs im Dach gerufen werden mussten. Da es sich um eine junge Gemeinde handelte, konnten sich die Mitglieder nur einen Teilzeit-Rabbi leisten, und so sprangen manche Gemeindemitglieder häufiger ein, wenn es darum ging, am Sabbat die Predigt zu halten oder eine Mahlzeit nach dem Kiddusch zu finanzieren. Die Leute waren immer wesentlich kontaktfreudiger, wenn gleichzeitig etwas zu essen serviert wurde. Die kleine Gemeinde steckte voller Enthusiasmus, und das machte die schreckliche Nachricht umso schwerer.
Auf der Fahrt dorthin empfand Rina Angst, und dunkle Vorahnungen erfüllten sie - neun Uhr morgens, und sie hatte einen Knoten im Magen und Sodbrennen. Die Polizei hatte keine Angaben über den Schaden gemacht; stattdessen war immer wieder das Wort »Vandalismus« gefallen. So wie sie es sagten, klang es mehr nach Schmierereien an den Wänden als nach wirklichen Schäden am Gebäude - aber vielleicht war das ja auch nur Wunschdenken.
Häuser, Geschäfte und Einkaufszentren glitten vorüber, doch sie hatte kaum mehr als einem kurzen Blick dafür übrig. Sie rückte die schwarze Schottenmütze gerade, die auf ihrem Kopf thronte, und schob ein paar heraushängende Locken ihres schwarzen Haars hinein. Selbst unter normalen Umständen verbrachte sie kaum Zeit vor dem Spiegel, und heute Morgen hatte sie gerade noch das Telefon aufgelegt und war nur mit dem Nötigsten bekleidet - schwarzer Rock, weiße, langärmlige Bluse, Slipper und Mütze - sofort aus dem Haus gestürzt. Für ein Makeup war ihr keine Zeit geblieben; die Cops würden die ungeschminkte Rina Decker zu sehen bekommen. Die Ampeln schienen ihr heute besonders lange auf Rot zu stehen - so sehr drängte es sie, so schnell wie möglich in die Synagoge zu kommen.
Die schul bedeutete ihr sehr viel: Sie war der Hauptgrund für den Verkauf von Peters alter Ranch und den Kauf ihres neuen Hauses gewesen. Da in ihrem jüdischen Haushalt der Sabbat eingehalten wurde, hatte sie nach einem Gotteshaus gesucht, das sie zu Fuß erreichen konnte - und damit war kein fünf Kilometer langer Fußmarsch gemeint, wie zu Zeiten, als sie noch auf Peters Ranch lebten. Der Weg zu ihrer alten schul, Ohavei Torah Jeschiwa, hatte ihr zwar nichts ausgemacht, und auch die Jungs konnten die Strecke problemlos bewältigen, aber Hannah war damals erst fünf Jahre alt gewesen. Das neue Haus dagegen war genau das Richtige für Hannah: ein Spaziergang von fünfzehn Minuten bis zur schul und eine Menge kleiner Kinder, mit denen sie spielen konnte. Nicht viele ältere, aber das konnte Rina egal
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