Der verborgene Charme der Schildkröte
obendrauf lag. Hebe Jones starrte es an und schaute dann zu ihrer Kollegin hinüber, die sich wieder an ihren Platz begeben hatte. Nicht nur, dass sie ebenfalls normalen Tee trank, sie hatte außerdem ein Teilchen von ähnlichen Dimensionen in der Hand. Bei genauerem Hinsehen stellte Hebe Jones fest, dass ihre Kollegin auch nicht mehr geschminkt war, und ein Blick auf ihre Füße offenbarte eine Rückkehr zu den alten flachen, schwarzen Schuhen.
Hebe Jones hatte es tunlichst vermieden, in all diesen Tagen, da ihre Kollegin nichts von dem Fahrkartenkontrolleur gehört hatte, auf ihn zu sprechen zu kommen. Anfänglich hatte sie Valerie Jennings ’ Optimismus geteilt, und bei jedem Läuten der Schweizer Kuhglocke hatten sie sich in stiller Hoffnung angeschaut. Schließlich aber waren finstere Wolken im Büro aufgezogen und hatten sich nach so vielen Enttäuschungen über Valerie Jennings zusammengeballt. Zum Schalter ging sie mittlerweile derart widerwillig, dass Hebe Jones es auf sich genommen hatte, so oft wie möglich selbst auf das Läuten der Kuhglocke zu reagieren.
»Was für ein wunderbares Teilchen«, sagte Hebe Jones.
»Danke.«
»Hast du schon eine Idee, was du mit der Belohnung anstellst, die der Besitzer des Safes dir gegeben hat?«
Valerie Jennings betrachtete den Scheck, der an der Oscar-Statue lehnte. Niels Reinking hatte ihn ihr überreicht, als er den Safe abgeholt hatte. »Darüber habe ich noch nicht wirklich nachgedacht«, sagte sie.
Als das zweite Frühstück beendet war, schlug Hebe Jones eine Partie Schiffe versenken vor und reichte Valerie Jennings, bevor sie ablehnen konnte, ein Blatt Papier, auf dem bereits ein Gitter eingezeichnet war. Gegen Mittag befand sie sich in der außergewöhnlichen Situation, bereits die gesamte Flotte ihrer Kollegin versenkt zu haben. Schnell holte sie die Kiste mit den künstlichen Haarteilen, aber nicht einmal der unerwartete Anblick des von ihr so geliebten Abraham-Lincoln-Barts konnte Valerie Jennings dazu bewegen, ihn anzulegen.
Ratlos, wie sie ihre Kollegin sonst noch aufmuntern könnte, sah sie auf die Uhr und stand auf, weil sie mit Tom Cotton verabredet war. Als sie ihren Mantel zuknöpfte, klingelte das Telefon. Sie drehte sich zu Valerie Jennings um, ob die vielleicht abnehmen würde, damit sie nicht zu spät kam, aber sie sah sie nur noch mit einem Geigenkasten im Gang verschwinden. Also griff sie seufzend selbst zum Hörer.
»Spreche ich mit Mrs. Jones?«, erklang eine Stimme.
»Genau.«
»Hier ist Sandra Bell. Sie hatten mich wegen der Urne aus Granatapfelholz angerufen.«
Sofort setzte Hebe Jones sich hin. »Haben Sie die Nummer des Mannes gefunden?«, fragte sie und fummelte an der Telefonschnur herum.
»Das habe ich, aber leider habe ich ihn nicht erreichen können. Vielleicht ist er weggefahren. Möchten Sie die Nummer haben, damit Sie es selbst versuchen können? Ich habe auch seine Adresse, falls Sie die brauchen.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, steckte Hebe Jones die Urne in ihre Tasche und hinterließ Valerie Jennings einen Zettel, um ihr mitzuteilen, wo sie hinging. Leicht gebeugt trottete sie davon, niedergedrückt von der Last, ohne ihren Sohn und ihren Ehemann zu sein. In der U-Bahn konnte sie zum Glück einen leeren Platz im Waggon ergattern. Die gesamte Fahrt über klammerte sie sich an ihre Tasche und hoffte, dass es ihr endlich gelingen würde, die Urne mit ihrem rechtmäßigen Besitzer wieder zu vereinen.
Das Haus, vor dem sie schließlich stand, war in den Fünfzigerjahren gebaut worden, um eine Lücke zu füllen, die die Bombardements der deutschen Luftwaffe in eine Reihe von viktorianischen Häusern gerissen hatten. Sie schob das Metalltor auf, betrachtete die Narzissen am Wegrand und fragte sich, ob sie auf dem Dach des Salt Towers auch wieder blühten. Mit der behandschuhten Hand drückte sie auf die Klingel und spürte, während sie wartete, wie die Kälte durch ihre Strumpfhose drang. Als niemand aufmachte, legte sie die Hände ans Fenster und schaute hinein. In einem Lehnsessel saß ein alter Mann und war vor dem Fernseher eingeschlafen. Sanft klopfte sie an die Scheibe. Der Mann zuckte zusammen und starrte sie an. Sie bemühte sich um ein unschuldiges Lächeln. Schließlich quälte er sich hoch und kam, um die Tür zu öffnen.
»Ja?«, fragte Reginald Perkins. Seine schmalen Lippen befanden sich direkt über der Türkette.
Hebe Jones sah den alten Mann an und wünschte sich sehnlichst, er möge der Besitzer der
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