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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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seltenen Krankheiten vor, die die Funktion des Herzens beeinträchtigten. Diese Krankheiten könne man allerdings nur bei einer lebenden Person und nicht post mortem feststellen. Manche Patienten hätten gar keine Symptome gezeigt, während andere Ohnmachtsanfälle erlitten hätten. Manche jungen Leute starben im Schlaf, manche, wenn sie wach waren, manche wiederum, wenn sie sich verausgabten oder emotionalen Stress erlitten. Bevor er wieder Platz nahm, fügte er noch hinzu, dass jede Woche zwölf Kinder und Jugendliche eines plötzlichen Herztods starben.
    Als der Coroner alle Zeugen gehört hatte, blickte er von seinen Akten auf und erklärte, dass Milo Jones eines natürlichen Todes gestorben sei. Daraufhin erhob sich Hebe Jones und schrie: »Was soll denn daran natürlich sein, wenn ein Kind vor seinen Eltern stirbt.«

KAPITEL SIEBZEHN
    Balthazar Jones ging am White Tower vorbei und zupfte sich eine smaragdgrüne Feder, die von oben herabgetrudelt war, von der Uniform. Er weigerte sich, zu ihrem kopfüber an der Wetterfahne hängenden Besitzer hinaufzuschauen, und setzte seinen Weg durch die Festung fort. Auch den gewöhnlichen Nieselregen, der jetzt fiel, ignorierte er. An der Nummer sieben an den Grünanlagen des Towers angekommen, klopfte er an die Tür. Während er wartete, kratzte er sich die linke, vom Pilz befallene Kniekehle.
    Als der Yeoman Gaoler endlich öffnete, registrierte Balthazar Jones sofort die warmen Noten eines edlen Aftershaves. Auf dem Weg zur Küche schaute er durch die offene Wohnzimmertür und sah die Vorsitzende der Richard-III.-Rehabilitierungsgesellschaft auf der Chaiselongue sitzen, eine Teetasse auf den Knien und die bleigrauen Haare in Aufruhr.
    Sorgfältig schloss der Yeoman Gaoler die Küchentür hinter sich. Er trat an den Tisch heran, öffnete den Käfig und nahm mit dem publikumswirksamen Schwung eines Zauberers den Deckel vom Plastikhäuschen. Balthazar Jones lugte hinein. Einen Moment lang war er sprachlos. »Aber die ist ja doppelt so groß wie die alte«, sagte er ungläubig.
    Eine Pause trat ein.
    Der Yeoman Gaoler kratzte sich den Nacken. »Das war alles, was ich unter diesen Umständen auftreiben konnte«, sagte er. »Man kann schließlich nicht in jede Hecke der Nation kriechen.«
    Schweigen herrschte, als die beiden Männer auf die gewaltigen Hüften des Tiers starrten.
    Irgendwann seufzte Balthazar Jones. »Falls jemand fragt, sagen Sie einfach, Sie hätten ihr zu viel zu fressen gegeben«, schlug er vor, verließ das Haus und knallte die Tür hinter sich zu.
    Als er an der Hinrichtungsstätte in den Grünanlagen des Towers vorbeikam, schaute der Beefeater auf die Uhr. Es war noch eine Weile hin, bis man die Touristen einlassen würde, und so ging er zum Brick Tower hinüber. Er kniff die Augen zusammen, um sich vor dem Regen zu schützen, und als er die Wendeltreppe hochstieg, wischte er sich mit seinem Taschentuch das Gesicht ab. In der Nähe des Albatros, der um sein Leben balzte, setzte er sich auf den Boden, nahm den Hut ab und lehnte sich an die kalte Mauer. Die Bewegung ließ eine Wolke aus weißen Federn aufwirbeln, die dann wieder herabtrudelten und auf seiner dunkelblauen Hose landeten. Der melancholische Vogel, der sein glänzendes Federkleid allmählich verlor, schob seine hässlichen Füße auf den Beefeater zu und presste sich an seinen Oberschenkel, um die rosafarbenen Stellen an seinem Körper vor Zugluft zu schützen.
    Mit der Oberseite der Finger streichelte ihm Balthazar Jones über den seidenweichen Kopf. Er genoss die Zeit, in der er seine Zöglinge für sich hatte, und schaute zum Albert-Paradiesvogel hoch, dessen blaue Augenbrauenfedern von grauen Singvögeln dazu benutzt wurden, ihre Balznester zu verschönern. Dann wandte er den Blick dem Lovebird-Weibchen zu, das sein pfirsichfarben-grünes Gefieder nach dem Gemetzel an seinem Männchen immer noch triumphierend aufplusterte, und dachte an den zerzausten Damenbesuch des Yeoman Gaoler. Die Frau musste über Nacht dort gewesen sein, wenn sie sich schon so früh in der Festung befand, und ihm wurde klar, dass er nie mit jemand anderem aufwachen wollte als mit Hebe Jones.
    Er streichelte immer noch den Kopf des Albatros, als er zum Fenster gegenüber starrte, in das Rechteck schmutzigen Himmels, das dort zu sehen war, und sich fragte, wer jetzt die Hand der Frau hielt, die er nicht mehr verdiente. Wer auch immer es sein mochte, der Mann wusste hoffentlich ihre vielen Vorzüge zu würdigen, die

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