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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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Urne sein. »Mein Name ist Mrs. Jones. Ich arbeite beim Fundbüro der Londoner Untergrundbahn. Wir haben eine Urne gefunden. Auf der Messingplakette daran steht der Name Clementine Perkins. Ich habe mich gefragt, ob sie Ihnen gehören könnte?«
    Er schwieg so lange, dass Hebe Jones sich schon fragte, ob er sie überhaupt verstanden hatte. Dann blinkte hinter seiner Brille eine einsame Träne auf.
    »Sie haben sie gefunden?«, bekam er schließlich heraus.
    Während Hebe Jones ihre Tasche öffnete, machte sich Reginald Perkins an der Kette zu schaffen und öffnete die Tür. Seine Hände zitterten wie Espenlaub, als er die Urne nahm und an seine Lippen führte, die niemanden mehr zum Küssen hatten.
    Als er in die Küche ging, um Tee zu kochen, setzte sich Hebe Jones aufs Sofa und war dankbar für die Wärme des Gasofens. Das Wohnzimmer hatte jahrzehntelang neue Einrichtungstrends unbeschadet überstanden und war noch mit der dezenten Blümchentapete der ersten Stunde tapeziert. Auf dem Kaminsims stand ein Schwarz-Weiß-Foto von einem jungen Paar, dessen Lächeln von der Unbesiegbarkeit der jungen Liebe zeugte, wie es da, frisch vom Traualtar, in der Kirchentür stand.
    Überall im Raum sah Hebe Jones Spuren von Clementine Perkins. An der Wand hing ein gerahmtes Stickbild von einer Blumenvase. Ein rosafarbener Knopf, den anzunähen sie nicht mehr geschafft hatte, lag in einem chinesischen Aschenbecher. Ein Untersetzer mit ihren Initialen wurde nun von Leuten benutzt, die um sie trauerten.
    Reginald Perkins reichte Hebe Jones ihre Tasse, ließ sich dann mühsam in seinen Sessel sinken, legte die Hände auf die Armlehnen und erzählte schließlich die Geschichte von Clementine Perkins’ außergewöhnlicher Reise.
    Sie hatten sich als Kinder kennengelernt, als sie nach dem Krieg um Zucker anstanden. Ihre Mütter freundeten sich während des Wartens an, weil sie beide mit der Schwierigkeit zu kämpfen hatten, plötzlich den Ehemann wieder daheim zu haben. Fortan durften die Kleinen miteinander spielen, wenn die Frauen sich trafen und Geschichten austauschten über diesen Fremden im Haus, den die Kinder längst vergessen hatten und nun Papa nennen mussten.
    Jahre später verloren sich die Mütter aus den Augen, weil die Perkins umzogen. Die Entfernung reichte aber nicht aus, um die Freundschaft zu beenden, die sich zwischen den Sprösslingen entwickelt hatte. Da sie die Verzögerungen durch den Postverkehr nicht hinzunehmen bereit waren, ließen sich die jungen Leute Nachrichten über den Milchmann zukommen, der selbst gerade geheiratet hatte und die Qualen zweier Verliebter gut nachvollziehen konnte. Eine Weile ging alles gut, bis er plötzlich anfing, die Nachrichten seiner Kunden mit denen der Teenager zu vertauschen. Es dauerte nicht lange, bis überall in der Gegend Hausfrauen den vernarrten Milchmann verfluchten, weil er ihnen die falsche Menge Milch vor die Haustür stellte und obendrein auch noch Zettel mit hingekritzelten Liebesschwüren hinterließ, während die Liebenden die romantische Botschaft hinter der Bestellung eines Extraliters Milch zu ergründen suchten.
    Die Hochzeit fand in bescheidenem Rahmen statt, und nach einem Jahr war Clementine Perkins schwanger. Zwei weitere Kinder folgten, und sie lebten ein zufriedenes Vorstadtleben. Irgendwann gingen sie beide vorzeitig in den Ruhestand, um mehr Zeit miteinander verbringen und ihrem liebsten Vergnügen nachgehen zu können: Tagesausflüge zu den historischen Stätten Englands zu unternehmen. Als schließlich das Alter nahte, wurde Reginald Perkins von der heimlichen Angst befallen, von seiner Frau getrennt zu werden, und wenn er sie vom Wohnzimmerfenster aus im Garten arbeiten sah, fragte er sich stets, was schlimmer war: als Erster oder als Zweiter zu sterben.
    Er war noch nicht zu einer endgültigen Meinung gelangt, als er sie während eines Spanienurlaubs, mit dem sie im trüben Winter ihre Laune aufheitern wollten, im Badezimmer liegen sah. Schweigend flog er heim, die sterblichen Überreste seiner Frau in einer blauen Reisetasche neben sich auf dem leeren Sitz. Monatelang weigerte er sich, das Haus zu verlassen, und sosehr ihn seine Kinder auch bitten mochten, er war nicht von der Asche fortzulocken.
    Eines Nachmittags saß er in seinem Sessel und konnte das Gift der Einsamkeit nicht länger ertragen. Also ging er in die Küche, machte ein paar Fischpasten-Sandwiches und steckte sie zusammen mit der Urne in die Tasche. Dann brach er auf zum Hampton

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