Der verborgene Charme der Schildkröte
Buch geschrieben hatte: Dania ad Exteros de Perfidia Suecorum , oder Dänemark an die Welt über den Verrat der Schweden . Prompt wurde er von dem diffamierten Land verhaftet. Nach etlichen Jahren im Gefängnis wurde er vor die Alternative gestellt, entweder sein Buch aufzuessen oder geköpft zu werden. Er zerkochte sein Werk zu Suppe, löffelte sie pflichtschuldig aus und erhielt sein Leben geschenkt. Endlich wieder in Freiheit, kehrte er nach Hause zurück. Mager, stinkend und mit einem Vollbart zugewuchert, ging er trotzdem als Sieger aus der Geschichte hervor. Aus seinen verschlissenen Strümpfen zog er nämlich die verdammungswürdigste Passage seines Werks hervor, die er herausgerissen und sich in die Unterwäsche gestopft hatte. Vom Königreich Dänemark wurde das Objekt nicht nur deshalb in höchsten Ehren gehalten, weil es vom überlegenen Scharfsinn der Dänen zeugte, sondern auch, weil es das einzige Buch in der ganzen Welt war, das gekocht und aufgegessen worden war. Und darauf waren die Dänen mächtig stolz.
Als Hebe Jones im Café eintraf, las Tom Cotton Zeitung. Auf der Titelseite prangte ein grobkörniges Foto, das angeblich ein Bartschwein in den schottischen Highlands zeigte. Sie zog ihren türkisfarbenen Mantel aus, setzte sich und fragte ihn, wie sein Tag gewesen sei.
»Ich bin mit dem Hubschrauber nach Liverpool geflogen, um ein Herz in ein Krankenhaus zu bringen«, sagte er und faltete seine Zeitung zusammen.
Sie riss eine Zuckertüte auf und schüttete sie in den Kaffee, den er für sie bestellt hatte. »Wessen Herz war das?«, fragte sie und schaute ihn beim Umrühren an.
»Das Herz eines Mannes, der bei einem Verkehrsunfall gestorben ist.«
Hebe Jones senkte den Blick. »Dann wissen seine Angehörigen wenigstens, warum er gestorben ist.« Ein langes Schweigen trat ein.
Als sie schließlich ihre Stimme wiederfand, erzählte sie von dem schrecklichen, schrecklichen Tag. Am Abend, bevor ihre Welt zusammengebrochen war, hatte sie Milos Zimmer betreten, um ihm wie immer eine gute Nacht zu wünschen. Er lag im Bett und las ein Buch über griechische Mythologie, das seinem Großvater gehört hatte. Nachdem sie es auf den Nachttisch gelegt hatte, zog sie ihm die Bettdecke bis ans Kinn hoch und küsste ihn auf die Stirn. Als sie das Zimmer verlassen wollte, fragte er sie, wer denn eigentlich ihr griechischer Lieblingsgott sei. Sie drehte sich um, schaute ihn an und sagte ohne jedes Zögern: »Demeter, die Fruchtbarkeitsgöttin.«
»Und der Daddys?«, fragte er dann.
Hebe Jones dachte einen Moment nach. »Ich nehme an, es wird wohl Dionysos sein, der Gott des Weines, des Frohsinns und der Verrücktheit. Wer ist denn dein Lieblingsgott?«
»Hermes.«
»Warum?«
»Eines seiner Symbole ist eine Schildkröte«, antwortete der Junge.
Am nächsten Morgen, als Milo nicht zum Frühstück erschien, stieg sie schließlich die Wendeltreppe hoch und öffnete die Tür. »Ein hungriger Bär tanzt nicht gern«, rief sie.
Als er sich nicht regte, trat sie an sein Bett und schüttelte ihn leicht, aber er wachte immer noch nicht auf. Sie schüttelte ihn etwas stärker, und dann schrie sie irgendwann nach ihrem Ehemann. Als die Sanitäter eintrafen, mussten sie ihn fortziehen, weil er immer noch versuchte, seinen Sohn wieder zum Leben zu erwecken. Gemeinsam folgten sie dem Krankenwagen zum Krankenhaus, und zum ersten Mal erlebte Hebe Jones, dass ihr Ehemann eine rote Ampel überfuhr.
Es war ein junger indischer Arzt, der ihnen mitteilte, dass er tot war. Hebe Jones brach zusammen und kam in einem Krankenbett wieder zu sich, das mit einem Vorhang abgetrennt war. Die Ärzte ordneten an, dass sie im Krankenhaus bleiben müsse, bis sie sich besser fühle. Als sie dann irgendwann, nicht länger eine Mutter, in den Salt Tower zurückkam, legte sie sich für den Rest des Tages auf das Bett ihres Sohnes und weinte, während die Asche ihres Lebens auf sie herabregnete.
Ein Pathologe untersuchte Milos Herz, um herauszufinden, wieso er gestorben war. Bei der gerichtlichen Untersuchung, die bei allen unnatürlichen Todesfällen anberaumt wird, berichtete der Mann, dass in einem von zwanzig Fällen eines plötzlichen Herztods keine bestimmte Todesursache gefunden werden könne. In einem solchen Fall spreche man von einem plötzlichen arrhythmischen Tod. Er räusperte sich und erklärte, dass es durch eine Störung des Herzrhythmus zum Herzstillstand komme. In manchen Fällen liege auch eine von verschiedenen, ziemlich
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