Der verborgene Charme der Schildkröte
durch die schmale Schießscharte.
Der Chief Yeoman Warder betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Ihnen scheint nicht klar zu sein, dass Ihre Zukunft hier gefährdet ist. Ich denke, Sie sollten eine Weile auf diesem Stuhl sitzen bleiben und nachdenken«, schlug er vor und stand auf. »So kann es nicht weitergehen.«
Der Beefeater zuckte zusammen, als die Tür zuknallte. Er schaute auf seinen Hut hinunter und wischte langsam die Regentropfen ab, die wie Diamanten in einer Krone funkelten. Er war zu niedergeschlagen, um aufzustehen, deshalb starrte er nur vor sich hin. Seine Gedanken wanderten wieder zu der Nacht zurück, in der Milo gestorben war, und zu seinem schrecklichen, schrecklichen Geheimnis. Als sein Magen sich schließlich beruhigt hatte, fiel sein Blick wieder auf seinen Hut, und wieder wischte er mit dem Finger darüber, obwohl es nichts mehr abzuwischen gab. Er stand auf, setzte den Hut auf, öffnete die Tür und kehrte an die Arbeit zurück.
Als Oswin Fielding ihm schrieb, er möge doch bitte in den Palast kommen, um über die neue Menagerie zu reden, war Balthazar Jones zu dem Schluss gelangt, dass seine neue Aufgabe ihn vor dem Rausschmiss bewahren würde. Das gab ihm einen Grund, morgens aufzustehen, obwohl ihn das Gewicht der Reue schwer in die Kissen drückte. Er steckte den Brief in seine Jackentasche, wo seine Frau ihn nicht entdecken würde, ebenso wenig wie die Krümel von den Keksen, die sie ihn nicht essen ließ, weil sie nicht gut für sein Herz waren.
An dem Tag, als er die Königin treffen sollte, saß der Beefeater im Morgenmantel auf seinem Bett und wartete darauf, dass die Schritte seiner Frau auf der Wendeltreppe verhallten. Dann eilte er zu einem der vergitterten Fenster, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich zur Arbeit ging, und erkannte durch das alte Glas sofort den Gang einer Frau, die entschlossen war, verlorene Besitztümer mit ihren geistesabwesenden Besitzern wieder zu vereinen. Nun nahm er seine rot-goldene Galauniform aus dem Schrank, denn Oswin Fielding hatte darauf bestanden, dass er sie zu diesem Anlass anzog. Mit dem Schaudern einer Frau, die ihre verführerischste Unterwäsche anzieht, holte er zudem seine weiße Halskrause aus der Hosenpresse.
Zum Ankleiden stellte er sich vor den Spiegel, der schon seit acht Jahren auf dem Boden stand, weil man ihn an der runden Wand nicht aufhängen konnte. Der Raum war erbärmlich, genauso erbärmlich wie das Wohnzimmer unten, obwohl er und Hebe Jones sich alle Mühe gegeben hatten, die ehemalige Nutzung des Salt Towers als Gefängnis vergessen zu machen. Die freundlichen Vorhänge an den Fenstern hielten allerdings nicht nur die Zugluft ab, sondern ließen die Verkommenheit der Behausung nur umso schärfer hervortreten.
Das Ehepaar hatte den Kleiderschrank vor das mitleiderregendste der in die Wand gekratzten Bilder geschoben, mit denen die Gefangenen ihre Hoffnung zum Ausdruck gebracht hatten, nicht einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Die anderen Bilder waren noch zu sehen. Wenn die Eheleute nachts nicht schlafen konnten und ihnen vor den furchtbaren Träumen in einer solchen Umgebung graute, meinten sie sogar, das klägliche Kratzen zu hören.
Als die Familie in den Salt Tower gezogen war, hatte Hebe Jones darauf bestanden, dass die klapprigen Möbel dort fortkamen und durch ihre eigenen ersetzt wurden, eine Entscheidung, die sie beide bald bereuen sollten. Während man in Milos Zimmer im unteren Stockwerk noch leicht ein Bett, eine Kommode und einen Schreibtisch transportieren konnte, gab es kaum etwas, das man über die Wendeltreppe nach oben bekam. Die Möbel mussten zerlegt und in Einzelteilen hochgetragen werden. Oben gelang es niemandem, sie ordnungsgemäß wieder zusammenzusetzen, und sie passten auch nicht richtig an die runden Wände, was keiner von ihnen bedacht hatte. Trotz der Pappe, die Balthazar Jones unter die Möbelstücke schob, neigten sie sich gefährlich in alle möglichen Richtungen, was sich durch den unebenen Boden noch einmal verschlimmerte und regelmäßig damit endete, dass irgendetwas umfiel, vornehmlich mitten in der Nacht.
Balthazar Jones genoss die Gelegenheit, die berühmte Uniform anzulegen, die sonst königlichen Aufwartungen im Tower und besonderen Zeremonien vorbehalten blieb. Zunächst streifte er die rote Strumpfhose über. Dann zog er den Bauch ein und quälte sich in die Kniehose, die im Kleiderschrank geschrumpft sein musste. Nachdem er die Uniformjacke mit den eingestickten
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