Der verborgene Charme der Schildkröte
schlüpfte in seine senffarbene Lieblingscordhose, die wegen seiner übermäßig langen Beine seine hageren Knöchel freiließ. Dann wühlte er in der Sockenschublade herum und entschied sich für ein Paar, das seit seinem Eintreffen mit dem Weihnachtspaket nie getragen worden war. Umwallt von seiner roten Soutane, ging er ins Bad und genoss das Gefühl neuer Socken an den Füßen. Er schaute in den altersfleckigen Spiegel, kämmte sein dunkles Haar zu der Frisur zurecht, die er erstmals im Alter von acht Jahren getragen hatte, und putzte sich mit besonderer Sorgfalt die Zähne. Trotz all dieser Bemühungen aber sah er im Spiegel immer noch nichts als einen Mann, der sein neununddreißigstes Lebensjahr erreicht hatte, ohne das größte Geschenk Gottes erfahren zu haben: die Liebe einer Frau.
Auf dem kurzen Weg zur Kapelle war er froh, dass es noch ein wenig dauerte, bis man die Touristen in den Tower einlassen würde. Er drückte die kalte Türklinke hinunter, stieg die drei Stufen hinab und ging zur Krypta, wo man ihn nicht sehen konnte. Dann wartete er, dass die Frau, die den Bodensatz seiner Seele aufgewühlt hatte, zurückkommen würde. Nach einer Stunde holte er ein Exemplar des Satiremagazins Private Eye aus der Tasche und stürzte sich in die unseligen Verfehlungen seiner geistlichen Mitbrüder. Eine Weile lang vermochte das seine Gedanken von seiner Not abzulenken, und er stieß sogar auf eine besonders köstliche Enthüllung, die im Detail eine Leuchtturmwärterin, einen Südwester, eine Flasche Absinth und einen Blumenkohl vorsah. Als er die Zeitschrift aber durchgelesen hatte und die Freude über die Skandalgeschichte abflaute, kehrten seine Gedanken wieder zu der Frau zurück, auf die er wartete. Eine weitere Stunde verstrich, und er fragte sich nicht zum ersten Mal, warum er noch alleine auf der Welt war.
Seine verheirateten Freunde hatten alles getan, um ihn aus der Tristesse des Junggesellendaseins zu befreien. Zu jeder ihrer Dinnerpartys hatten sie eine gute christliche Frau eingeladen und angekündigt, dass sie perfekt zu ihm passe. Und da man die Hoffnung nie aufgeben durfte, war er jedes Mal frisch rasiert und mit einer Flasche Château Musar unter dem Arm dort erschienen. Anfangs sah es auch immer so aus, als hätten seine Gastgeber recht gehabt. Die Frau war sofort hingerissen von dem einnehmenden Geistlichen, zu dessen Arbeit es gehörte, im Tower von London zu wohnen. Und trotz seiner Frisur war er eine überaus angenehme Erscheinung. Der Mann bekannte sich nicht nur zu einer Leidenschaft fürs Kochen, was Musik in den Ohren einer modernen Frau war, sondern erzählte zudem derart fesselnde Geschichten über Fluchten aus der Festung, dass noch während der Cocktails sämtliche Anwesenden die Augen aufrissen. Wenn die Gäste Platz nahmen, glühte die Frau bereits vor Verlangen. Trotz des ermutigenden Auftakts nahm der Abend allerdings stets denselben misslichen Verlauf, weil unweigerlich irgendwann irgendjemand fragte: »Und wie viele Personen sind im Tower gestorben?«
Aus Erfahrung wusste der Kaplan, dass er seine Antwort kurz halten sollte. Daher schlug er seine übermäßig langen Beine übereinander und erklärte: »Entgegen der landläufigen Annahme wurden nur sieben Personen im Tower enthauptet.« Dann aber, mochte es nun an dem exquisiten libanesischen Wein liegen oder dem überraschenden Einwurf eines historisch bewanderten Gastes, rückte er, ehe er sich’s versah, mit der ganzen verfluchten Wahrheit heraus.
»Natürlich gab es da nicht nur die Enthauptungen. Heinrich VI. wurde angeblich im Wakefield Tower erstochen. Viele Leute glauben, dass die zwei kleinen Prinzen von Richard III. im Bloody Tower ermordet wurden. In der Regierungszeit von Edward I. hat sich ein hoher Beamter namens Henry de Bray zu ertränken versucht, indem er sich mit gefesselten Händen in die Themse stürzte, bevor sein Boot am Tower angelegt hatte. Später hat er dann in seiner Zelle Selbstmord begangen. 1585 hat sich der achte Graf von Northumberland im Bloody Tower erschossen. Übrigens wollte auch Sir Walter Raleigh, als er im Tower saß, Selbstmord begehen. Wer noch? Ach ja, während des Bürgerkriegs wurden neun Royalisten exekutiert. Dann waren da noch die drei Männer von der Scottish Black Watch, einem Infanterie-Bataillon des Königlichen Regiments von Schottland, die wegen Meuterei vor den Augen ihrer Mannschaft erschossen wurden, direkt neben der Kapelle. Laut Befehl mussten sie ihre
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