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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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Leichentücher schon unter der Uniform tragen. Habe ich jemanden vergessen? Ja, da wäre noch der arme, alte Sir Thomas Overbury. Als er im Bloody Tower saß, hat man ihm vergiftete Obsttörtchen zukommen lassen. Er starb einen monatelangen schmerzhaften Tod, bis man ihm schließlich mit einem Quecksilbereinlauf den Garaus machte. Höchst unangenehm.«
    In der Annahme, er sei nun fertig, trat eine mitfühlende Pause ein. Sobald die Gäste aber wieder zu ihrem Besteck griffen, fuhr der Kaplan fort.
    »Dann gab es da noch den Herzog von Clarence, der im Bowyer Tower in einem Fass seines geliebten Malmsey-Weins ertränkt wurde. Simon Sudbury, der Erzbischof von Canterbury, wurde während des Bauernaufstands aus dem Tower geholt und nach mehreren Anläufen davor enthauptet. Seinen mumifizierten Kopf können Sie in der Kirche St. Gregory in Sudbury, Suffolk, bewundern …
    Wo war ich gleich? Ach ja. Arabella Stuart, die Cousine von James I., wurde hier eingekerkert und möglicherweise im Queen’s House ermordet. Ihr Geist hat die Angewohnheit, Leute im Schlaf zu erwürgen. Elf Männer verschiedener Nationalitäten kamen im Zweiten Weltkrieg wegen Spionage vor ein Erschießungskommando. Ein deutscher Spion wurde 1941 erschossen. Er war übrigens der letzte Mensch, der im Tower exekutiert wurde. Irgendwo haben wir noch den Stuhl, auf dem er damals gesessen hat. Ich denke, ich sollte auch die einhundertfünfundzwanzig Gefangenen erwähnen, die auf dem Tower Hill direkt vor den Mauern der Festung gestorben sind, meist durch Enthauptung und unter den Augen Tausender zügelloser Zuschauer. Okay, das waren immerhin ein paar der Opfer.«
    Wenn Rev. Septimus Drew die Frage beantwortet hatte, war das Essen unweigerlich kalt geworden, und die Wangen besagter Frau hatten die Farbe von gebleichten Leinenservietten angenommen. Dass sie, wenn sie sich am Ende des Abends verabschiedete, ihre Telefonnummer für sich behielt, entschuldigten die verständnisvollen Gastgeber mit seinem Zuhause. »Welche Frau möchte schon im Tower leben?«, fragten sie, und jedes Mal konnte der Kaplan ihnen nur beipflichten. Sobald er aber in sein leeres Haus an den Grünanlagen des Towers zurückkehrte und im Dunkeln in seinem Arbeitszimmer mit dem kahlen Fußboden saß, gelangte er zu der bitteren Erkenntnis, dass die Schuld allein bei ihm lag.
    Als er sich damit abgefunden hatte, dass die Frau, die seine Träume bevölkerte, nicht kommen würde, stand Rev. Septimus Drew auf und ging durch die Kapelle zum Ausgang. Draußen frisierte der Wind seine Haare sofort um, und er kehrte schnell nach Hause zurück, die Schneemänner auf seinen Socken zwischen dem Saum der Soutane und dem Straßenpflaster deutlich sichtbar. Vor der blauen Haustür, die er immer abschloss, seit einmal zwei spanische Touristen auf seinem Sofa gesessen und in aller Ruhe ihre Sandwiches verzehrt hatten, kramte er in seiner Tasche nach dem Schlüssel. Er schloss die Haustür hinter sich wieder ab und ging in die Küche. Dort roch es noch nach dem Treacle Cake, dem gehaltvollen Ingwerbrot, das er nach dem allmählich verblassenden Rezept seiner Mutter gebacken hatte, und er nahm die Teekanne für eine Person vom Regal.
    Balthazar Jones erreichte das Tor des Buckingham Palace, nachdem er die gesamte Fahrt über versucht hatte, nicht mit der Halskrause gegen die Rückenlehne zu knallen, wenn der Fahrer in die Bremsen stieg. Nun begleitete ihn ein Polizist durch einen Seiteneingang in den Palast und übergab ihn in die Obhut eines schweigsamen Dieners, dessen auf Hochglanz polierten Schnallenschuhe ebenfalls vollkommen geräuschlos über einen dicken blauen Teppich schritten. Zu beiden Seiten des Korridors standen vergoldete Tische mit Marmortischplatten, und die üppigen rosafarbenen Blumenarrangements darauf waren am selben Morgen noch von der in Tränen aufgelösten königlichen Hoffloristin angefertigt worden. Ihr Mann hatte sie soeben um die Scheidung gebeten, aber die Tränen waren nicht die der Trauer, sondern die der Erleichterung gewesen, weil sie sich nie daran hatte gewöhnen können, dass ihr Mann jeden Morgen im Schottenrock, karierten Strümpfen und ohne Unterhose zur Arbeit ging. Nach dreijähriger enttäuschender Ehe mit dem Dudelsackspieler der Queen fand sie sein musikalisches Talent ebenso unerträglich wie die Queen selbst. Seine historische Pflicht rührte noch von der Schottlandbegeisterung Königin Viktorias her und bestand darin, an jedem Werktag vor dem Fenster Ihrer

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