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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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ihr zu erklären, dass er in einer äußerst dringlichen Angelegenheit unterwegs sei. Vor ihm stand aber der Hüter der Tower-Annalen und knetete seine geizigen Finger.
    »Haben Sie den Yeoman Warder Jones gesehen?«, fragte er.
    »Heute noch nicht«, antwortete der Geistliche.
    »Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm doch bitte, dass ein Paar Oryxantilopen für ihn eingetroffen ist«, sagte er.
    Rev. Septimus Drew schlängelte sich durch die Menge hindurch, lief am Schild ›Privat‹ am Ende der Water Lane vorbei und schob die Tür zum Rack & Ruin auf. Ein Pulk von Beefeatern stand ehrfürchtig um den Tisch herum, an dem Dr. Evangeline Moore und der Rabenmeister in ihre am Abend zuvor begonnene Monopoly-Partie vertieft waren. Seit das Verbot des Spiels aufgehoben worden war, hatte die Tower-Ärztin keine einzige Partie verloren, und jedes Mal hatte sie mit der Drei-Penny-Münze gespielt. Nach jedem Sieg, den sie mit der raffgierigen Gnadenlosigkeit eines Gerichtsvollziehers errungen hatte, verlangten die Gegner nach der Münze, die von ihrer Zeit im Weihnachtspudding gezeichnet war. Nichts konnte die Tower-Ärztin aber dazu bewegen, sie abzutreten.
    Der Kaplan näherte sich der Theke, und als er schließlich bedient wurde, bestellte er ein Scavenger’s Daughter. Seine Getränkewahl trug aber nicht dazu bei, die Wirtin milde zu stimmen, die sich darauf beschränkte, ihm durch die Bierlachen hindurch das Restgeld zuzuschieben. Anschließend kehrte sie zu ihrem Barhocker zurück, nahm ihr Strickzeug und senkte den Kopf. Rev. Septimus Drew schaute zu, wie die Maschen im selben Moment, da sie gebildet wurden, wütend auf die andere Stricknadel gestoßen wurden. Er stellte sein Glas ab, sah sich um und lehnte sich vor. »Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«, fragte er leise.
    Ruby Dore schaute auf und sagte erst einmal gar nichts. Dann antwortete sie: »Ich komme in einer Minute in den Well Tower. Sie gehen besser schon einmal vor, sonst gibt es ein unerträgliches Gerede.«
    Als der Kaplan mit dem Rücken zu den zahmen Wanderratten im Dämmerlicht wartete, versuchte er sich von dem unerquicklichen Genage abzulenken, indem er an die herrlichen Möhren dachte, die die ehemaligen Freudendamen im Küchengarten anbauten. Bald kam aber die Wirtin und knallte die Tür so laut hinter sich zu, dass sämtliche Nager in ihre Löcher flohen. Sie langte in ihre Jeanstasche, zog ein Blatt Papier heraus und hielt es ihm hin. »Könnte es sein, dass Sie etwas verloren haben?«, fragte sie. »Das hier hat einer der Brüllaffen, die Ihr Haus verwüstet haben, in die Klauen bekommen und dann vor der Schenke liegen lassen.«
    Rev. Septimus Drew faltete das Blatt auseinander und fing an zu lesen. Da er seinen Stil sofort erkannte, faltete er es wieder zusammen und steckte es tief in die Tasche seiner Soutane. Dann erzählte er ihr von der Liebesgeschichte seiner verwitweten Mutter und von seiner Passion fürs Schreiben, die damals geweckt worden sei. Alle Gattungen habe er ausprobiert, erklärte er, aber die führenden Verlage des Landes hätten ihm jede weitere Einsendung untersagt. Er wies noch darauf hin, dass jeder Penny, den er damit verdiene, in ein von ihm gegründetes Heim für ehemalige Freudendamen fließe und dass man dort gemeinsam nach befriedigenderen Formen der Beschäftigung als dem Verkauf selbstzerstörerischer Liebe suche.
    Die Pracht der von den Damen angebauten Kohlköpfe reichte allerdings nicht aus, um Ruby Dore zu besänftigen. Sie erklärte, dass es ihm als Geistlichem nicht zustehe, sich über rosenknospengleiche Brustwarzen zu verbreiten, und dass er nicht nur den Ruf der Kirche, sondern auch den des Towers aufs Spiel setze.
    »Warum sind Männer nur nie, was sie zu sein behaupten?«, platzte es aus ihr heraus, bevor sie mit wehendem Pferdeschwanz zur Tür zurückeilte. Als er alleine in der Dunkelheit stand, hallten ihre Worte derart laut nach, dass er das unerquickliche Genage im Käfig hinter sich gar nicht mehr wahrnahm.
    Unter ihren schimmernden Wimpern hinweg beobachtete Valerie Jennings, wie Hebe Jones hinter der Ecke verschwand, weil die Schweizer Kuhglocke geläutet hatte. Sie stand auf, zog den Bund ihres Blümchenrocks hoch und ging zu den Bücherregalen. Während sie die Romane der obskuren edwardianischen Schriftstellerin Miss E. Clutterbuck nach einem geeigneten Titel absuchte, um mit seiner Hilfe der Welt zu entfliehen, kam es ihr plötzlich komisch vor, dass außer Arthur Catnip niemand je eines ihrer

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