Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
Vom Netzwerk:
Bücher fand. Nicht zum ersten Mal kehrten ihre Gedanken zu ihrer letzten Begegnung zurück, als er sich auf der Treppe vor dem Hotel Splendid auf die Zehenspitzen erhoben und ihr einen Gutenachtkuss gegeben hatte.
    Damals war ihr nicht die Zeit geblieben, nach der Arbeit nach Hause zu gehen und sich umzuziehen. Stattdessen hatte sie sich in die Bekleidungsabteilung des Fundbüros begeben und hektisch zwischen den Stangen herumgewühlt. Schließlich fand sie ein schwarzes Kleid mit Dreiviertelärmeln und schnitt das Preisschild, das daran baumelte, kurzerhand ab. Dann schaute sie sich in der Handtaschenabteilung um und fand eine Unterarmtasche mit einer großen Diamantschließe, die sich mit einem satten Klicken schloss. Nachdem sie eine Weile in der Schublade mit den verloren gegangenen Parfums herumgekramt hatte, schwankte sie zwischen Abendstimmung und Mystischer Moment. Unfähig, eine Wahl zu treffen, entschied sie sich für beides und ließ dann mit geschlossenen Augen die Welle verwirrender Gerüche über sich zusammenschlagen. Schließlich öffnete sie die Schublade darunter und entdeckte zwischen all dem Halsschmuck eine cremeweiße Perlenkette. Da die Diamantschließe zu der ihrer Handtasche passte, legte sie die Kette mit zitternden Fingern um. Vor dem Badezimmerspiegel befreite sie ihre Locken aus der Verankerung am Hinterkopf und ließ sie auf die Schultern hinabfallen.
    Viel zu früh stand sie auf der blank gefegten Treppe des Hotels Splendid, weil ihre Füße, die von ihren Schuhen zu zwei roten Dreiecken zusammengepresst wurden, sie vorwärtsgetrieben hatten, und rückte ihre frisch geputzte Brille zurecht. Als der tätowierte Fahrkartenkontrolleur kam, erkannte sie ihn fast nicht wieder, weil seine Haare zu einer Art Getreidekreis zurechtgeschoren waren.
    Der Speisesaal des Splendid war noch größer als der mit Orchideen bestückte viktorianische Wintergarten, in den Hebe Jones sie jedes Jahr zu ihrem Geburtstag einlud. Als der Kellner den Stuhl für sie zurückzog, fiel ihr auf, dass ihr Tisch der einzige mit gelben Rosen war. Arthur Catnip nahm gegenüber von ihr Platz und betonte, wie bezaubernd sie aussehe, und schon spürte sie nichts mehr von dem demütigenden Gefühl, ein fremdes Kleid zu tragen, das ihr nicht richtig passte.
    Als die Vorspeise serviert wurde, schaute Arthur Catnip auf Valerie Jennings ’ Austern und sagte, dass er aus dem Biologieunterricht einzig noch wisse, dass diese Schalentiere mehrfach im Leben das Geschlecht ändern können. Valerie Jennings erwiderte, dass sie selbst einer Geschlechtsumwandlung nie näher gekommen sei als damals, als sie in einem Krankenhaus den Nikolaus gespielt habe und aufs Männerklo habe gehen müssen, um die Kinder nicht zu verwirren.
    Als das Hauptgericht serviert wurde, schaute Valerie Jennings unbehaglich auf Arthur Catnips Gans und erzählte, dass sie einmal von einer angegriffen worden sei, als sie im Park Enten gefüttert habe. Der Fahrkartenkontrolleur berichtete nun von einer Episode, als er sechs gewesen war und alles Brot, das ihm seine Mutter für die Enten gegeben hatte, in seinem eigenen Bauch gelandet war. Sein Bruder hatte ihn deshalb in den Teich geschubst, und ein Parkwärter hatte ihn an den Haaren herausziehen müssen, weil er sonst ertrunken wäre.
    Während Valerie Jennings auf den dänischen Apfelkuchen wartete, erwähnte Arthur Catnip, dass sie, wenn sie ihr Nikolauskostüm jemals wieder zum Einsatz bringen wolle, unbedingt nach Dänemark gehen müsse, denn dort würde jeden Sommer der Internationale Nikolauskongress abgehalten. Valerie Jennings nippte an ihrem Dessertwein und erwiderte, dass sie niemals nach Dänemark fahren würde, weil sich nämlich die Dänen nach nur zweiminütiger Besetzung den Nazis ergeben hätten.
    Erst als der Kellner kam, um ihnen mitzuteilen, dass das Restaurant in Kürze schließe, wurde ihnen bewusst, dass sie langsam aufbrechen sollten. Sie standen auf der blank gefegten Treppe und spürten nichts von der bitteren Kälte, als ihnen der livrierte Page zwei Taxen rief. Als das erste Taxi vorfuhr, wünschte Arthur Catnip ihr eine gute Nacht, reckte sich dann um einige Zentimeter in die Höhe und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Das versetzte sie in ein derartiges Verzücken, dass sie von ihrer Rückfahrt nichts mehr in Erinnerung behielt.
    Jetzt verfluchte sie sich selbst, weil ihr bei der Zeit, die die Dänen für die Kapitulation gebraucht hatten, ein Fehler unterlaufen war. Sie

Weitere Kostenlose Bücher