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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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mein Augenblick. »Um dich zu bewahren.«
    Seine Augen schlossen sich. Er atmete nicht, ebenso wenig wie Hautlos, aber etwas wogte durch seinen Körper. Ohne mich wieder anzusehen, sagte er: »Du schätzt kontinuierliche Existenz anders als ich, weil dir das Verständnis für Zeit fehlt. Es wird immer Schmerz geben. Es wird immer mich geben oder etwas von gleicher Art an meiner Stelle.«
    »Selbst deine Priester haben sich gegen dich gewandt. Der Pater Primus verschwor sich mit Choybalsan und nahm seine Priesterbrüder mit. Dir ist nicht viel geblieben. Ist heute der Tag, an dem du sterben willst?« Dann dachte ich an seine Worte und sagte: »Vermisst Hautlos seinen Theopomp? Vermisst du Septio?«
    Dieses Mal kicherte er. Wieder schwemmte eine Woge des Schmerzes über mich wie die Flut, die mit einer Leiche am Strand spielt. »Das fragt das Mädchen, das sein Leben genommen hat.« Sein Lächeln wurde breiter, und ich wünschte, ich hätte nicht in seinen Mund geblickt. »Du hast auch seinen Samen genommen.« Eine bleiche Hand deutete auf meinen Bauch. »Ich wäre nicht so hart zu mir selbst, wenn ich eine Frau in deinem Zustand wäre.«
    In der Panik, die mich erfasste, dachte ich: Er konnte es nicht so meinen. Nicht ich. Nicht hier. Nicht jetzt.
    Nicht Septio.
    Wie konnte eine Frau gleich schwanger sein, wenn sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem Mann zusammen war? Mistress Cherlise hätte über meine Worte gelacht. Aber es war zu früh, es auch nur zu ahnen.
    Außer der Gott hatte es von Anfang an gewusst …
    Schwarzblut strich mir mit den Fingern über die Schulter. Der Schmerz stach wie ein erneuter Schuss des Priesters und schwand dann vollkommen. »Du wirst das Kind meines Theopomps zu gegebener Zeit zu mir bringen. Jetzt geh und tu, was du für das Beste hältst.«
    Irgendwie erwartete ich, dass er verschwand wie der Faktor, doch er begab sich nur zurück auf seinen Thron und versank ins Grübeln. Als mich Hautlos wieder aufhob und mich diesmal so trug, als wäre ich das Kind, begann ich zu weinen.
    Augenblicke später erreichten wir die obere Halle. Die Menschen liefen schreiend auseinander. Eine Pistole knallte. Hautlos ignorierte sie alle, bis er die Außentüren erreichte. Erleichtert sah ich, dass draußen noch immer Tageslicht herrschte.
    Der Avatar drehte sich um und starrte auf die kauernden Priester zurück, die gegen ihren Gott rebelliert hatten. Er legte mich über die Schulter wie ein Kleinkind bei einem Bäuerchen und schloss die Türen mit der anderen Hand. Ich blickte an ihm vorbei, an den Buckeln seines Rückgrates und den Muskeln seines Rückens.
    Hautlos presste die Handflächen gegen die Türen, bis sie rauchten.
    Als wir unseren Weg fortsetzten, waren die Türen verbeult, geknickt und zugeschweißt. Drinnen hob das Geschrei an.
    Das Schreien begann auch auf der Straße der Horizonte, als die Menschen in wilder Panik vor meinem neuen Beschützer das Weite suchten.
    Hautlos stapfte mit großen Schritten durch die Stadt. Mir wurde bewusst, dass ich wieder meine Ochsenglocke in der Faust hatte. Das Ausbeinmesser war verloren und damit auch die Leben, die diese Waffe gefordert hatte, doch die rekonstruierte Erinnerung machte sich im Rhythmus seiner Schritte bemerkbar.
    Jetzt im Tageslicht konnte ich sehen, wie groß Hautlos wirklich war – zwei Mal so groß wie ein normaler Mann, fast drei Mal so groß wie ich. Ich begriff auch, dass er mich trug, damit wir rascher vorankamen. Meine Schmerzen waren verschwunden, besonders die der Schusswunde in meiner Schulter. Aber auch die Geisterschmerzen älterer Verletzungen spürte ich nicht mehr.
    Welch ein Geschenk mir der Peingott gemacht hatte.
    »Danke«, betete ich.
    Ein großes, blasses Auge, umringt von Muskelfasern und kleinen Fettfältchen, drehte sich mir einen Augenblick zu.
    Wir hinterließen eine Spur von Panik und Schreien, aber niemand versuchte, uns zu folgen. Ich sah selbst einige der zivilen Wachen des Übergangsrates die Flucht ergreifen. Weniger Menschen waren unterwegs, als wir die Roggenstraße erreichten. Die Sonne stand fast auf der verabredeten Höhe, als die Stoffbörse vor uns auftauchte.
    Ein Mob brüllte vor dem provisorischen Regierungssitz. Entweder der Faktor oder der Rektifizierer hatten gute Arbeit geleistet. Vielleicht sogar beide.
    Dann begriff ich meinen Irrtum. Der Treffpunkt war die Zisterne drei Fingerbreit vor Sonnenuntergang. Die Mächte, die der Faktor zu diesem Kampf mitbrachte, würden wohl kaum im

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