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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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Erinnerung
    Das Erste, an das ich mich in diesem Leben erinnere, ist mein Vater, wie er seinen weißen Ochsen mit dem Namen Ausdauer zu den hoch gelegenen Begräbnisstätten führte. Ich sah seinen Rücken vor mir, während wir die lange staubige Straße entlanggingen. Alles, was nicht von Wasser bedeckt war, war staubig im Land meiner Geburt. Wassergräben säumten beide Seiten der Straße und verlockten zum Spielen. Die Stoppelfelder waren trocken, aber ich könnte nun nicht mehr sagen, welche Erntesaison gerade gewesen ist.
    Eines Tages würde ich die Geschicke von Städten und Göttern verändern, doch damals war ich nur ein kleiner Schmutzfink in einem kleinen schmutzigen Winkel der Welt. Ich kannte noch nicht viele Worte, aber ich wusste, dass meine Großmutter auf dem Rücken des geduldigen Ochsen festgebunden war. Sie war so vollkommen reglos und still an diesem Tag, nur ihre Glöckchen klingelten.
    Jede Frau unseres Dorfes erhält bei ihrer Geburt ein Stück Seide oder zumindest ein Stück des besten Tuches, das sich die Familie leisten kann. Es heißt, dass die Länge des Stoffs Einfluss auf die Länge des Lebens der Besitzerin hat, aber ich habe niemals gesehen, dass die Schwester eines Geldverleihers in zwölf Meter Seide länger gelebt hätte als eine dürftig genährte Bäuerin mit wesentlich weniger auf dem Nähtisch. Das Erste, was ein junges Mädchen lernt, ist, jeden Tag ein kleines Glöckchen an ihre Seide zu nähen, sodass sie an dem Tag ihrer Hochzeit begleitet vom Geläute von viertausend Glöckchen tanzen kann. Sie näht jeden Tag, sodass ihre Seele am Tag ihres Todes von der Musik von fünfundzwanzigtausend Glöckchen aus diesem Leben getragen wird. Die Ärmsten verwenden Samenkapseln oder Muscheln, aber auch diese erinnern uns an die kleinen und großen Schritte unseres Lebens.
    Meine Seide ging vor langer Zeit verloren, und alle meine Versuche, sie zu ersetzen, schlugen fehl. Geduld: Ich werde noch erzählen, wie es dazu kam. Zuvor möchte ich jedoch erklären, wie ich zu dem wurde, was ich bin. Denn wer nichts von diesem Tag weiß – von meiner frühesten Erinnerung, die dem ersten Vogel gleicht, der jemals sein Gefieder spreizte und von einem Ast in die Lüfte stieg –, der wird auch nicht verstehen und nichts von meinen Freuden und Leiden in all den Jahren begreifen, die seither vergangen sind.
    Der Ochse Ausdauer trug an diesem Tag eine klingende Last. Seine hölzerne Glocke schlug im Rhythmus seiner Schritte. Die Tausende von Glöckchen an der Seide meiner Großmutter klangen wie der erste Regen auf dem Dach unserer Hütte nach den langen heißen Tagen. Später in jungen Jahren, bevor ich nach Selistan zurückkehrte, um meine Wurzeln zu finden, erinnerte ich mich daran und dachte, dass diese Klänge vielleicht von ihrer Seele kamen, die von den glühenden Felsen dieser Welt in die kühlen Schatten der nächsten emporstieg.
    An diesem Tag hielt ich das Klingeln für die Tränen der Tulpas als feierliches Geleit für Großmutters Weg.
    In meiner Erinnerung schwankte die Welt, was nur bedeuten konnte, dass ich nicht selbst zu Fuß ging. Ich hatte nur Augen für Ausdauer und meine Großmutter. Mein Vater führte den Ochsen, also musste mich meine Mutter getragen haben. Sie war damals noch am Leben. Ich erinnere mich nur an den festen Druck ihrer Arme an meinen Beinen und die Wärme ihrer Haut, als sie mich hielt und ich mich gegen sie stemmte, um einen besseren Blick nach vorn zu haben. Sonst habe ich keine Erinnerung an meine Mutter – gar keine.
    Ihr Gesicht bleibt mir für immer verborgen. Ich habe so vieles in diesem Leben verloren, weil ich nie zurückblickte, um mich mit meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen.
    Doch diese so vollkommen vergessene Frau hielt mich mütterlich in den Armen. Sie folgte gemächlichen Schrittes dem Schlag von Ausdauers hölzerner Glocke, und sie hielt mich hoch genug, sodass ich die weiß bemalten Augen meiner Großmutter sehen konnte.
    Sie ist mir in guter Erinnerung in diesem Moment. Was in meinem jungen Leben auch zuvor passiert sein mag, ist für immer verloren, aber meine Großmutter muss darin eine wichtige Rolle gespielt haben. Ich klammerte mich mit so liebevoller Heftigkeit an ihren Anblick, als ahnte ich die dürren Jahre, die vor mir lagen.
    Die Falten in ihrem Gesicht verrieten den langen Weg, den sie gegangen war. Ihre Haut schien ein Netz zu sein, in dem ihre glänzenden Augen spinnengleich darauf warteten, die Küsschen kleiner Lippen

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