Der verbotene Fluss
Sir Andrew, der so in seiner Trauer und Scham gefangen war, dass er seiner Tochter nicht die Zuneigung und Nähe schenken konnte, die sie dringend brauchte; sie weinte auch um Tilly Burke, die Lady Ellen geliebt hatte und von ihr benutzt worden war; um Nora, deren Treue zu ihrer Großmutter und ihrer Arbeitgeberin sie blind gemacht hatte für das Leid des Mädchens.
Und dann endlich gestattete sie sich, auch um sich selbst zu weinen. Sie saß auf dem Bett, den Kopf gesenkt, und ihre Tränen tropften achtlos hinunter und fielen auf ihre Hände und ihr Kleid.
Sie versuchte, einen Rest der Wärme in sich zu finden, die sie vom ersten Augenblick an in Toms Gegenwart verspürt hatte, und sich damit zu trösten. Doch es gelang ihr nicht.
Sie war nicht erfahren in solchen Dingen, doch den Blick der Frau hatte sie richtig gedeutet. Wer wie sie, Charlotte, am Rande der Gesellschaft lebte, ohne wirklich dazuzugehören, bemerkte mehr als andere.
Diese Frau hatte Tom Ashdown angesehen, als wollte sie ihn für sich beanspruchen. Als gehörte er ihr schon.
Als ihr irgendwann so kalt war, dass ihre Hände rot und blau aussahen, hörte sie unten an der Haustür ein Geräusch.
Mrs. Farleys Stimme war so laut, dass Charlotte aufstand und die Tür einen Spaltbreit öffnete.
Im nächsten Moment hörte sie die Vermieterin sagen: »Kein Herrenbesuch, Ausnahmen gibt es nicht. Schon gar nicht um diese späte Stunde, Sir.«
Sowie sie seine Stimme erkannte, begann ihr Herz zu klopfen, dass sie den Puls bis in die Kehle spürte.
»Selbstverständlich will ich nicht gegen Ihre Prinzipien verstoßen, Mrs. Farley. Sie könnten die Dame aber herunterbitten, wenn Sie so freundlich wären, und ihr erklären, dass ein Herr ihr eine dringende Mitteilung zu machen hat.«
»Nun«, entgegnete Mrs. Farley zögernd, »Sie scheinen ein Gentleman zu sein. Daher biete ich Ihnen an, kurz in meinem Wohnzimmer mit Miss Pauly zu sprechen.«
»Das ist ungemein großzügig von Ihnen«, erklang die vertraute spöttische Stimme, »aber ich möchte Sie nicht in Ihren privaten Räumen belästigen. Wenn sich Miss Pauly zum Ausgehen bereit gemacht hat und heruntergekommen ist, werden wir Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«
»Nun gut, Sir, ich werde ihr Bescheid sagen«, ließ sich Mrs. Farley vernehmen.
»Das ist nicht nötig«, sagte Charlotte und trat entschlossen an die Treppe. Sie hängte sich den Mantel über den Arm, setzte den Hut auf und stieg mit festem Schritt die Stufen hinunter.
Sie sah Tom in die Augen. Sein Blick beantwortete all ihre Fragen. »Ich bin bereit«, erklärte sie.
NACHWORT
Wie in meinen anderen Büchern gab es auch für Der verbotene Fluss unterschiedliche Inspirationen. Der wichtigste Auslöser war sicherlich die Lektüre des Buches Geisterjäger – William James und die Jagd nach Beweisen für ein Leben nach dem Tod von Deborah Blum (dt. von Gisela Kretzschmar, München 2007). Zunächst möchte ich kurz auf die anderen Quellen eingehen, denen ich meine Ideen verdanke:
Vor vielen Jahren habe ich mich für meine Diplomarbeit mit Übersetzungen von Charlotte Brontës berühmtem Roman Jane Eyre beschäftigt, in dem eine Gouvernante in ein englisches Herrenhaus kommt und dort auf düstere Geheimnisse stößt. Dieses Motiv ist von vielen Autorinnen und Autoren vor mir aufgegriffen worden. Ich habe versucht, einen Anklang daran zu bewahren, die Geschichte aber zu modernisieren – immerhin ist Jane Eyre einige Jahrzehnte früher angesiedelt – und auch mit den Erwartungshaltungen meiner Leserinnen und Leser zu spielen. Da ich annehme, dass Sie sich das Schlusswort tatsächlich für den Schluss aufbewahrt haben, verrate ich hier keine Geheimnisse. Ich gebe ehrlich zu, dass ich Jane Eyre viel verdanke, und möchte den Roman allen ans Herz legen, die ihn noch nicht kennen.
Ein weiteres Motiv sind die Märchen, die immer wieder im Buch auftauchen und verschiedene Funktionen erfüllen. Nicht zufällig sind es deutsche Märchen, die Charlotte sozusagen im Gepäck aus ihrer Heimat mitgebracht hat und mit denen sie ihre Schülerin vertraut macht. Sie dienen als Trost oder Ablenkung oder Symbol für Dinge, die sie nicht offen aussprechen kann.
Eine wichtige Rolle spielt auch der Wald, der das Haus umgibt und zeitweise bedrohlich wirkt – ein sehr deutsches Motiv, das auch in Wilhelm Hauffs Das steinerne Herz aufgenommen wird, einem Märchen, das Charlotte Emily erzählt.
Das schockierende Verhalten von Lady Ellen
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