Der verbotene Fluss
weiß nicht, Fräulein Pauly … Meinen Sie, es war so?«
Charlottes Herz schlug so heftig, dass sie den Widerhall zu hören glaubte. »Es könnte sein. Niemand kann wissen, was tief in einem anderen Menschen vorgeht. Aber ich bin mir sicher, dass sie dich sehr geliebt hat.«
»Ja.« Emily drückte die Puppe enger an sich.
Niemand vermochte zu sagen, was die Zukunft bringen würde, ob sie sich mit Charlottes Erklärung abfinden oder später einmal Nachforschungen anstellen und die Wahrheit erfahren und ihre Gouvernante verfluchen würde, weil diese sie belogen hatte. Gnädige Lügen waren immer noch Lügen. Aber Charlotte konnte einer Achtjährigen nicht erzählen, was ihre Mutter ihr und danach sich selbst angetan hatte. Sie konnte nur hoffen, dass mit der Zeit auch das Vergessen kommen würde. Und dass ihr Vater ihr einfühlsamer begegnete als zuvor.
Ihr Vater.
»Emily, ich muss dir noch etwas sagen. Ich habe vorhin mit deinem Vater gesprochen …«
Als sich Charlotte endlich in ihr Zimmer begab, war sie völlig erschöpft. Während Emily so tapfer Haltung bewahrt hatte, als sie ihr vom Begräbnis ihrer Mutter erzählte, war sie untröstlich gewesen, als sie erfuhr, dass sie sich von Charlotte verabschieden musste. Sie hatte lange geweint und war schließlich auf Charlottes Schoß eingeschlafen. Sie hatte das Mädchen zu Sir Andrew getragen und sie ihm wie einen lebenden Vorwurf hingehalten, als wollte sie ihn an seine Pflicht erinnern. Er hatte sich mit ihr an den Kamin gesetzt, und Charlotte hatte die beiden allein gelassen.
Sie fand den Brief auf ihrem Bett. Als sie die Handschrift erkannte, verspürte sie zum ersten Mal an diesem Tag so etwas wie Freude.
Meine liebe Charlotte,
ich hoffe, Sie sind wohlbehalten wieder in London eingetroffen. Ich würde mich freuen, Sie in den nächsten Tagen bei mir zum Tee begrüßen zu dürfen. Es gibt einen Brief, den ich Ihnen unbedingt zeigen möchte. Ich werde jeden Tag um fünf Uhr auf Sie warten.
Tom
PS: Die Adresse ist 54, Clerkenwell Green.
37
Am folgenden Montag begab sich Charlotte zu der Agentur, die ihr die Stelle bei Sir Andrew vermittelt hatte. Die Besitzerin, Miss Manning, empfing sie kühl, da Charlotte nur wenige Monate in Chalk Hill gearbeitet hatte, was auf eine mögliche Unzufriedenheit des Arbeitgebers hindeutete. Als sie jedoch hörte, dass sich Sir Andrew Clayworth aus persönlichen Gründen für längere Zeit ins Ausland begeben und seiner Angestellten beste Referenzen erteilen würde, wurde sie freundlicher.
»Gut, Miss Pauly, dann werden wir Sie wieder als stellungssuchend in unsere Kartei aufnehmen und uns bei Ihnen melden, sobald wir eine entsprechende Anfrage erhalten oder von einer freien Stelle für eine Frau mit Ihren Fähigkeiten erfahren. Welche Adresse darf ich notieren?«
Charlotte zögerte. »Könnten Sie mir eine Pension empfehlen, in der ich vorübergehend ein Zimmer mieten kann? Sir Andrew wird bald abreisen, daher muss ich mir eine neue Unterkunft suchen.« Die Worte gingen ihr schwer über die Lippen. Plötzlich widerstrebte es ihr, sich auf diese Weise anzubieten, auch wenn es die übliche Vorgehensweise war.
»Nun …« Die Dame schaute sie über die halbmondförmige Brille hinweg an. »London ist eine sehr teure Stadt, wie Sie sicher wissen. Allerdings kenne ich tatsächlich einige Vermieterinnen, die stellungssuchenden Damen zu angemessenen Preisen eine Unterkunft vermieten. Ich werde Ihnen eine Adresse hier in der Nähe aufschreiben, Sie können sich dort auf mich berufen.« Sie nahm eine kleine Karte und notierte einen Namen und eine Adresse in Brixton, das, wie sie hinzufügte, südlich der Themse gelegen sei.
»Die Zimmer sind klein, aber sauber. Über die Kosten sprechen Sie bitte mit Mrs. Farley selbst. Wenn ich nichts von Ihnen höre, gehe ich davon aus, dass Sie unter dieser Anschrift zu erreichen sind.«
Charlotte erhob sich. »Ich danke Ihnen.«
Dann verließ sie das Büro und ging durch den dämmrigen Flur zur Haustür, durch deren Buntglasfenster blasses Winterlicht fiel. Als sie die Haustür hinter sich schloss, atmete sie tief durch. Sie entfaltete den Stadtplan, den sie zuvor gekauft hatte, und suchte die Straße, die die Vermittlerin notiert hatte. Sie befand sich tatsächlich ganz in der Nähe.
Das Haus lag ein Stück von der Straße entfernt hinter einem schmiedeeisernen Geländer und sah mit seinen rußgeschwärzten Ziegeln düster und abweisend aus. Charlotte spürte, wie ihr Herz schwer
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