Der verbotene Schlüssel
seinen möhrenhaften Zeigefinger in die Höhe und schmunzelte verschmitzt. »Abgesehen von drei Dingen. Wohl eher von ideellem Wert ist ein Brief oder vielmehr ein handgeschriebenes Buch, das du bitte unverzüglich lesen musst.« Er holte Letzteres aus der Kiste. Es war schwarz mit einem weißen Sprenkelmuster, hatte wie ein Schulheft ein beschriftetes Namensschild und erinnerte Sophia an die Kladden, in denen Kaufleute früher ihre Einnahmen und Ausgaben aufgelistet hatten.
»Warum die Eile?«, fragte sie.
»Das verrate ich dir gleich. In der Nachlassliste rangiert an Nummer zwei das hier.« Er entnahm dem Karton etwas Kleines, Flaches und legte es vor Sophia auf den Tisch.
»Ein Schlüssel?«, fragte sie verwundert.
»Der Schlüssel zu seiner Eigentumswohnung. Von heute ab zu deiner Wohnung. Ich bin allerdings als Treuhänder eingesetzt, bis du volljährig bist. Alles darin gehört dir. Eine Kopie der Liste sämtlicher Möbel und sonstigen Gegenstände liegt in der Kiste. Die Wohnung befindet sich in der Bergstraße 70. Du kannst sie dir gleich nachher ansehen. Ist gar nicht weit von hier. Sei aber bitte nicht enttäuscht. Sie ist ziemlich alt.«
Sophia nickte. Andere an ihrer Stelle hätten vermutlich Freudensprünge gemacht. Ihr verursachte die »Formalie« Magendrücken. Es kam ihr vor wie Leichenfledderei. Andererseits – einen Blick konnte sie ja in die Wohnung werfen. Sie wollte ohnehin in der Stadt übernachten. Vielleicht erfuhr sie dort mehr über ihren geheimnisvollen Großvater.
»Und nun kommen wir zum Höhepunkt«, sagte Sibelius feierlich. Er stemmte sich aus dem Sessel hoch, schob umständlich das Tablett mit dem Wasser und den Keksen zur Seite und griff erneut in die Kiste. Es ließ sich unschwer erkennen, dass er diesmal einen größeren Gegenstand zutage fördern würde. Und so war es auch.
Der Notar hob einen rubinroten, glänzenden Würfel aus dem Karton. Vorsichtig stellte er ihn vor Sophia auf den Tisch. Eine Schatulle, dachte sie sogleich. In einem Bildband ihres Vaters über Juwelierkunst hatte sie ähnliche, wenn auch kleinere Behältnisse gesehen: Pillen- und Schnupftabakdosen, Kassetten für Schmuck und sogar eine für ein Glasauge. Der Kasten hier barg offenbar etwas anderes, Größeres. Auf allen sechs Seiten zierten ihn Quadrate, die ungefähr bis auf Fingerbreite an die Außenkanten heranreichten und mit einem goldenen Rautenmuster ausgefüllt waren. Unter der rot glasierten Schicht jedes dieser Felder bemerkte Sophia ein Strahlenmuster, in dem das einfallende Licht sich fing und in unterschiedlichen Schattierungen reflektiert wurde.
Sibelius nickte ihr zu. »Mach ihn ruhig auf.«
Sie beugte sich vor, klappte die obere, mit rotem Samt ausgeschlagene Hälfte des Würfels auf, und zum Vorschein kam … Sophia fuhr erschrocken zurück und starrte mit großen Augen auf das blaue Ei.
»Nein!« Ihre Stimme war nur ein Hauch.
Der Notar schmunzelte. Die Überraschung seiner Klientin bereitete ihm sichtliches Vergnügen. »Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«
»Ist es das, wonach es aussieht?«, fragte Sophia leise.
»Nimm es heraus und schau es dir genau an. Du bist die Expertin.«
Mit den Fingerspitzen umfasste sie das Ei und hob es aus dem Kasten. Sie merkte, wie ihre Hände zitterten.
»Da müsste noch ein Ständer drin sein«, erklärte Sibelius.
Sophia förderte auch den ans Tageslicht: einen Ring mit drei Füßen, die in kleinen Adlerklauen mündeten, alles offenbar aus ziseliertem Gold. Vorsichtig setzte sie das blaue Ei darauf ab und lehnte sich erschöpft zurück. Sie war überwältigt. »Das ist ein Fabergé-Ei, nicht wahr?«
Er nickte zufrieden. »Das Zwielicht-Ei. Einmal hat dein Großvater es auch Nacht-Ei genannt. Ich habe mich ein wenig für dich umgehört. In der New Yorker Forbes Collection befinden sich ähnliche Stücke. Ihr Wert beläuft sich auf zehn Millionen Dollar und mehr.«
»Zehn …?« Sophia verschlug es die Sprache. Das war selbst für sie eine Menge Geld. »Ist es echt?«
Sibelius entnahm seinem Aktendeckel einen Zettel. »Hier ist das Zertifikat, das mir dein Großvater bei der Hinterlegung überlassen hat, eine Art Steckbrief des Eies. Warte, da sind einmal die Materialien aufgelistet – Lapislazuli, Gold, Diamanten, Mondsteine und sternförmige Goldpaillons – dann die Ausführung … Jetzt hab ich’s! Da steht: ›Es handelt sich um das erste Osterei, das der Goldschmied Carl Peter Fabergé für den russischen Zaren anfertigen ließ.
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