Der verbotene Schlüssel
1
F ür mehr als ein zaghaftes Klopfen brachte Sophia nicht den Mut auf. Ihre schmale Hand legte sich auf die kühle, verschnörkelte Klinke aus Messing. Während sie auf ein Lebenszeichen aus dem Büro wartete, musterte sie lustlos ihr Spiegelbild in den milchigen Glasfüllungen der hohen rotbraunen Holztür. Es ließ nur erahnen, wer davor mit klopfendem Herzen stand:ein schlankes, vierzehnjähriges Mädchen mit leicht schräg stehenden, traurigen, hellblauen Augen, ausgeprägten Wangenknochen, Sommersprossen um die Nase und honiggelben schulterlangen Haaren. Hatte sie schon wieder abgenommen? Anscheinend ging ihr die neuerliche Hiobsbotschaft mehr an die Nieren, als sie sich eingestehen wollte.
Hinter der Tür blieb es still. Unschlüssig drehte sich Sophia zu der Sekretärin um, eine Frau Ende vierzig mit fest eingebautem Lächeln, kastanienrot kolorierter Turmfrisur, knallig geschminkten Lippen und einer weißen, viel zu engen, vermutlich bretthart gestärkten Baumwollbluse. Unter der hohen, stuckverzierten Decke der zweckentfremdeten Berliner Altbauwohnung wirkte die dralle Notariatsgehilfin etwas verloren. Wenigstens lächelte sie und bedeutete der jungen Klientin, es noch einmal zu versuchen.
Sophia hätte zu gerne gewusst, warum die Vorzimmerdame nicht einfach ihren Chef anrief und ihm die Besucherin meldete. Wahrscheinlich lag es daran, dass Erwachsene oft unter Ausschaltung ihres Verstandes nur nach Schema F handelten. Das Mädchen wollte keine Spielverderberin sein und klopfte abermals.
Von drinnen ertönte endlich ein festes, nicht unfreundliches »Herein!«
Die Klinke quietschte vernehmlich, als sie heruntergedrückt wurde, und derweil die Tür aufschwang, quietschte diese noch mehr. Sophia wäre lieber davongelaufen, doch sie trat ein. Das Gewicht ihres Rucksacks schien sich bei jedem Schritt zu verdoppeln. Er enthielt neben dem Gepäck für den Kurztrip nach Berlin auch ihren Laptop – sie hatte während der Zugfahrt am Buch für ein Theaterstück gearbeitet.
Über knarzende Dielen schlich sie in das große Büro von Doktor Anton Sibelius. Schüchternheit gehörte normalerweise nicht zu ihrem Wesen. Als Zweitbeste ihres Jahrgangs im Internat brauchte sie sich vor niemandem zu verstecken. Nein, die für sie untypische Zurückhaltung wurzelte eher in einem tief sitzenden Argwohn. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie viel durchgemacht. Sie traute dem Leben nicht mehr. Und die Umstände, denen sie ihr Hiersein verdankte, bestärkten sie in dieser Haltung.
»Du bist Sophia, nicht wahr?«, rief Sibelius von der anderen Seite des überdimensionierten Arbeitszimmers. Es war mit ein paar Perserteppichen ausgelegt und roch nach Wachs, Mottenkugeln und altem Papier. Zur Rechten wetteiferten Aktenordner mit diversen ledergebundenen Nachschlagewerken um den Platz in einem deckenhohen Regal. Links gegenüber reihten sich vier sonnendurchflutete Fenster aneinander.
»Sophia Kollin«, erwiderte das Mädchen nickend. »Wollen Sie, dass ich mich ausweise?«
»Darum kümmern wir uns später. An dem Kleiderständer da kannst du erst mal deine Jacke aufhängen. Den Tornister stellst du am besten daneben. Dann komm bitte her, damit ich nicht so schreien muss.«
Sie entledigte sich des Rucksacks, hängte ihre schwarze Steppjacke an einen freien Haken und zog kurz den Saum ihres dünnen schwarzen Alpakapullovers gerade. Hätte sie für diesen offiziellen Anlass anstelle ihrer Lieblingsjeans doch lieber einen Rock anziehen sollen?
»Nun komm schon, Kind. Ich beiße nicht«, rief Sibelius vom anderen Ende des Raums.
Sie leistete den Anweisungen des Notars Folge. Auf dem Weg zu dessen schweren Eichenholzschreibtisch musterte sie den vielleicht sechzig Jahre alten Mann. Er war eine Ehrfurcht einflößende Persönlichkeit. Obwohl er gut im Futter stand, spannte die Weste über seinem enormen Bauch erkennbar weniger als die Bluse der Sekretärin. Sein grauer Flanellanzug war vermutlich maßgeschneidert, das weiße Hemd makellos und die weinrote Krawatte, dem Klubabzeichen nach zu urteilen, das Erkennungszeichen irgendeines elitären Zirkels, in dem er zweifellos eine maßgebliche Rolle spielte. Aus dem steifen Hemdkragen quoll ein Doppelkinn hervor, das beiderseits des dicklippigen Mundes in zwei Hängebacken überging. Die krumme, breite Nase erinnerte Sophia an eine Delikatessgurke. Seine drohende Kahlheit kaschierte er durch einen weitgehend ungestutzten Resthaarbestand, der in kunstvollen Windungen auf der
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