Der verbotene Schlüssel
spiegelnden Kopfhaut ausgelegt war. Umso üppiger spross das grauschwarze Haar aus seinen Ohren, der Nase und über den braunen Augen, die der nahenden Besucherin geduldig entgegenblickten.
Als Sophia vor dem Schreibtisch eintraf, hievte Sibelius seinen schweren Körper aus dem monströsen Ledersessel und streckte ihr seine fleischige Rechte entgegen, die ein schwerer Siegelring schmückte. Sie schüttelte ihm die Hand.
»Herzlich willkommen in meinem bescheidenen Reich. Bitte setz dich.«
Sie nickte und ließ sich in einen braunen Besuchersessel mit blanken Steppnägeln sinken. Als sie endlich das Polster unter dem Hintern spürte, reichten ihr die Armlehnen fast bis zu den Schultern. Sie kam sich vor wie in einem Schraubstock.
»Möchtest du etwas trinken? Kaffee? Tee?«, fragte der Notar.
»Cola bitte.«
»Haben wir nicht.«
»Dann eine Limo.«
»Haben wir auch nicht.«
Ihr Magen knurrte, weil sie im Zug nichts gegessen hatte. »Kekse?«
»Ich könnte dir Selters anbieten. Das Gebäck bekommst du gratis dazu.« Er lächelte schelmisch.
»Na gut.« Sie lächelte zurück. Sibelius gab sich alle Mühe, nicht so bärbeißig herüberzukommen, wie er aussah. Sie wollte ihn nicht entmutigen.
Der Notar erteilte seiner Sekretärin per Telefon ein paar knappe Anweisungen, legte wieder auf und setzte sein Lächeln fort.
Sophia räusperte sich. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so unwohl gefühlt.
Hinter ihr flog die Tür auf, und jemand trippelte über das Parkett, das trotz der Teppichinseln bei jedem Schritt vernehmlich knarzte. Die Sekretärin stellte vor Sophia ein Tablett auf den Schreibtisch.
»Mineralwasser und Gebäck«, sagte sie wie eine Bedienung im Restaurant und trat nach einem kurzen Dank ihres Chefs den Rückzug ins Vorzimmer an.
Sibelius stützte die Ellenbogen auf den Tisch, verschränkte seine Finger wie zum Gebet und lächelte abermals. Geduldig beobachtete er, wie seine Klientin einen winzigen Schluck trank, sich einen Keks schnappte und hineinbiss.
»Wie ist das Wetter in der Schweiz, Sophia?«
»Es regnet.«
Er warf an den gefalteten Händen vorbei einen Blick in die Akte, die aufgeschlagen vor ihm lag. »Du besuchst das Mädcheninternat des Lyceum Alpinum im schweizerischen Zuoz, nicht wahr?«
»Ja.«
»Gefällt es dir dort?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Weiß nicht.« Warum kam der Mann nicht zur Sache?
»Der Grund deines Hierseins ist dir bekannt?«
Na endlich! »Das haben Sie mir doch geschrieben.Weil mein Großvater vor genau einer Woche gestorben ist. Es geht um sein Testament.«
Er nickte mit betrübter Miene. Offenbar waren ihm nicht nur die Pflichten eines Testamentsvollstreckers vertraut, er besaß auch Routine im Heucheln von Mitgefühl. »Herzliches Beileid, Sophia.«
»Danke.«
»Mit den Gefühlen ist das so eine Sache. Die heutige Testamentseröffnung wird hoffentlich nicht zu früh für dich kommen. Mich würde es nicht minder …«
»Ich kannte diesen Menschen überhaupt nicht«, schnitt sie ihm das Wort ab. Sie hasste es, wenn sie so patzig war; ohne dieses Ventil konnte sie die innere Anspannung nicht ertragen. Was den Vater ihres Vaters anbelangte, so hatte sie zwar von ihm gehört, ihn aber nie kennengelernt – zwischen den beiden Männern herrschten unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten. Der »alte Sturkopf« – so hatte Sophias Vater ihr berichtet – sei eines Tages untergetaucht wie ein Bankräuber auf der Flucht. Gelegentlich hatte er der Familie ein Lebenszeichen nach Pforzheim geschickt. Immer unter einem anderen Namen.
Der Notar blickte erneut auf seinen Spickzettel. »Es tut mir leid, dass du im Verlauf von so kurzer Zeit schon zum zweiten Mal einen Trauerfall in der Familie hast. Laut meinen Aufzeichnungen bist du seit fast zwei Jahren Vollwaise?«
»Seit zweiundzwanzig Monaten und neunzehn Tagen«, antwortete Sophia gereizt. Ihre Eltern waren unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Während einer Reise zu einer Schmuckmesse in München hatten sie angeblich so gut wie gleichzeitig einen Herzstillstand erlitten. Ihr Auto war einen Abhang hinuntergerast und an einer Mauer explodiert. Eigentlich hatte die ganze Familie in die bayerische Hauptstadt fahren wollen, aber Sophia war an dem Wochenende krank geworden und unter der Obhut befreundeter Nachbarn in Pforzheim geblieben. Wahrscheinlich hatte sie nur deshalb überlebt.
Abgesehen von ihr war anscheinend niemand misstrauisch geworden. Der Gerichtsmediziner hatte für
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