Der verbotene Schlüssel
sich in den Sessel. Das abgewetzte braune Leder des Bezugs war angenehm warm und weich. Es verströmte den Geruch von Geborgenheit. Sie stellte die Archivbox auf ihre Oberschenkel, löste das Siegelband und nahm den Deckel ab. Obenauf lag das Notizbuch. Es hatte DIN A4-Größe und mochte hundert Seiten umfassen. Zum ersten Mal las Sophia die Widmung, die Ole Kollin mit seiner feinen, altmodischen Handschrift auf das Namensschild geschrieben hatte:
Für Sophia:
» Das merkwürdigste Buch der Welt«
»Komischer Titel«, murmelte sie und nahm die Kladde aus dem Kasten. Dabei fiel ihr Blick auf die würfelförmige rote Schatulle darunter. Schon als Kind hatte sie von ihrem Vater einiges über Goldschmiedekunst gelernt; deshalb wusste sie die kunstvolle Ausführung der winzigen Details zu würdigen. Wie von selbst wanderte das Behältnis in ihre Hände. Eine kleine Weile lang bewunderte sie die feine Emaillearbeit, öffnete dann den Deckel und nahm das blaue Fabergé-Ei heraus. Den Kasten ließ sie achtlos neben dem Sessel auf den Teppich gleiten.
Unwillkürlich schlug ihr Herz schneller, als ihre Finger über den Nachthimmel aus Lapislazuli und die goldenen Sterne strichen. Sophias Vater war mit einigen aufsehenerregenden Entwürfen maßgeblich daran beteiligt gewesen, die Marke Fabergé in der Neuzeit wiederzuerschaffen. Deshalb wusste sie auch so viel von dem russischen Juwelier und Goldschmied Carl Peter Fabergé und seinen Prunkeiern.
Weil in der russisch-orthodoxen Kirche Ostern das wichtigste Fest ist, hatte Fabergé sie ursprünglich als Ostereier für den Zaren gedacht. Sie bildeten gewissermaßen den Gipfel der damaligen Goldschmiedekunst und waren der Inbegriff von Luxus und Kunstfertigkeit. Nicht nur ihr kostspieliges Äußeres begründete diesen Ruf, sondern ebenso das aufwendige, oft mit verblüffenden Funktionen versehene Innenleben.
Insofern waren es auch »Überraschungseier«. Manche enthielten kleine Tiere oder Blumen aus Gold und Juwelen, andere Miniaturen von einem Schiff, der Transsibirischen Eisenbahn oder einem Palast. Das barocke Kuckucks-Ei etwa war eine Tischuhr. Drückte man einen Knopf auf der Spitze des Eies, hüpfte ein Vögelchen heraus, das den Schnabel bewegen, krähen und mit den Flügeln schlagen konnte. Neben dem Uhrwerk gab es einen zweiten Mechanismus für einen winzigen Blasebalg, der die für den Gesang des Vogels nötige Luft lieferte.
Welche Überraschung mochte wohl das Zwielicht-Ei bergen?
Sophia versuchte, es aufzuklappen, aber irgendetwas hinderte sie daran. »Lass mal überlegen«, murmelte sie. Für die Tochter von Rasmus Kollin musste diese Hürde doch zu nehmen sein. Sie drehte und wendete das Ei hin und her. Mit einem Mal lächelte sie. Zielsicher drückte sie den großen Diamanten in der Rosette an der Vorderseite. Ein leises Klick! ertönte und die beiden Hälften des Prunkeies sprangen ein Stückchen auseinander. Neugierig klappte sie es vollends auf.
»Noch ein Ei?«, entfuhr es ihr überrascht. Es lag in dunkelblauem Samt, war ungefähr so groß wie eine Avocado oder eine Männerfaust, also deutlich kleiner als die es umgebende Hülle, und bestand aus kunstvoll ziseliertem Messing. Sophia kannte zwar die russischen Matrjoschkas, diese bunt bemalten, schier endlos ineinander verschachtelten Holzpuppen – und Fabergé war ein Russe –, aber damit hatte sie trotzdem nicht gerechnet. Würde sich in dem Messingei ein weiteres, noch kleineres Ei befinden und darin wieder eins?
Behutsam hob sie es aus dem Samtbett. Dabei kam in einer Mulde darunter ein goldenes Schlüsselchen zum Vorschein. Eine Spieldose? Ihre Vermutung wurde durch die Form des Gegenstandes bestärkt, den sie jetzt erst genau erkennen und erfühlen konnte. Eigentlich war es kein richtiges Ei. Unter dem gewölbten Deckel glich es eher einer Dose mit eiförmiger Silhouette. Sophia legte das Fabergé-Ei neben die Schatulle auf den Boden, öffnete vorsichtig den Schnappverschluss und klappte den Verschluss auf.
Es war eine Uhr.
»Eine Eier-Uhr«, flüsterte sie schmunzelnd.
Dem Aussehen nach musste der Zeitmesser schon sehr alt sein. Über die drei Zeiger wölbte sich eine Abdeckung aus Glas und auch das sparsam gravierte Ziffernblatt war so klar wie Kristall. So vermochte man ins Innenleben der Uhr hineinzusehen. Sophia konnte nur staunen. Es kam ihr so vor, als blicke sie in einen Organismus, dem nur ein Hauch fehlte, um zum Leben zu erwachen. Hätte sie doch nur eine Lupe bei der Hand, um
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