Der verbotene Schlüssel
Die Arbeit wurde von seinem leitenden Juweliermeister ausgeführt.‹« Sibelius blickte über den Rand des Blattes hinweg. »Du weißt sicher, von wem ich spreche.«
Sie nickte benommen. »Erik August Kollin. Mein Ururgroßvater … Sagten Sie nicht, Opa Ole lebte in bescheidenen Verhältnissen?«
»Ja. Was nicht heißen muss, dass er arm war. Er hat mir das Ei schon vor etlichen Jahren zur Aufbewahrung übergeben. Ab und zu holte er es wieder ab und brachte es nach nur ein paar Tagen zurück. Er sagte, er müsse gelegentlich mit dem Ei reden. Dein Großvater konnte recht merkwürdig sein, weißt du? Ich habe ihn oft gefragt, warum er das Fabergé-Ei nicht verkauft. Es hätte ihn zu einem sehr vermögenden Mann gemacht. Seine Antwort war immer die gleiche: ein hektisches Kopfschütteln und die Bemerkung, im Verborgenen sei es am besten aufgehoben.«
Sophia beugte sich erneut vor, um das Ei genauer zu betrachten. Es war nicht so bunt und überladen wie andere Werke Fabergés, die sie schon gesehen hatte. Aber in ihren Augen machte gerade seine schlichte Schönheit es zu einem unübertrefflichen Meisterstück der Goldschmiedekunst.
Es stellte unverkennbar den Nachthimmel dar. Den Hintergrund bildeten dunkelblaue Lapislazulisteine, die es wie ein Mosaik bedeckten. Die Sterne waren eine Einlegearbeit aus Goldfolie, Paillons , wie die Experten sagten. Obenauf saß eine Krone aus einem großen und mehreren kleinen Diamanten. An der breitesten Stelle ließ sich das Ei augenscheinlich öffnen; die aufeinanderstoßenden Kanten waren ebenfalls in Gold eingefasst. An der Vorderseite befand sich ein goldenes Tor, wie es die Zufahrt zum Zarenpalast geschmückt haben mochte. Mittig darüber, noch unterhalb des goldenen Nahtringes, saß eine weitere Rosette aus einem großen und zehn kleineren Diamanten.
Sophia überkam plötzlich ein unbeschreibliches Hochgefühl. Es war weniger der materielle Wert des Fabergé-Eies, der sie taumeln machte, als vielmehr dessen atemberaubende Schönheit. Sie schüttelte den Kopf. »Das muss doch schon vor hundertzwanzig Jahren unbezahlbar gewesen sein. Und Papa hat mir erzählt, sein Urgroßvater sei nur Mitarbeiter, nicht Partner von Carl Fabergé gewesen. Wie ist das Ei in unseren Familienbesitz gelangt?«
»Darüber hat sich dein Großvater mir gegenüber ausgeschwiegen. Vielleicht findest du in seinen Aufzeichnungen die Antwort darauf.« Sibelius deutete auf das Schreibbuch, das neben der Archivkiste lag. »Im Testament steht übrigens, ich soll dich ausdrücklich und in aller Deutlichkeit warnen , das Fabergé-Ei zu öffnen, bevor du die Einleitung des Buches gelesen hast.«
Sie nickte abwesend. »Also darf ich es mitnehmen?«
» Ja!!! Mit drei Ausrufungszeichen geschrieben. Ich habe versucht, deinem Großvater auszureden, ein Zehn-Millionen-Dollar-Ei in die Hände einer Minderjährigen zu legen, aber er bestand darauf. Wenn Chronos ihm das Leben abschneide, schärfte er mir ein, dann soll ich keinen Tag zögern, dir das Ei und das Notizbuch auszuhändigen.«
»Chronos?«
»Der griechische Gott der Zeit.« Sibelius kräuselte die Lippen. »Wie gesagt, Ole Kollin war ein liebenswerter und manchmal recht seltsamer Mann.«
Sophia musterte ihr Gegenüber nachdenklich. Der Notar war wohl doch nicht so abgebrüht, wie sie gedacht hatte. »Wie ist mein Opa eigentlich gestorben?«
Er zögerte. »Es gehört an und für sich nicht zu meinen Aufgaben …«
»Anscheinend haben Sie ihn gemocht. Sein Tod kann Sie unmöglich kaltlassen.«
»Wer behauptet das?«, entfuhr es ihm. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. »Es ist nur … Ich bin kein Arzt und will dir nichts Falsches sagen.«
»Doktor Sibelius, Sie brauchen nicht zu denken, dass Sie mir unangenehme Wahrheiten vorenthalten müssen. Ich bin kein kleines Kind mehr. Was hat den Tod meines Großvaters verursacht?«
Er brachte ein großes Stofftaschentuch zum Vorschein und wischte sich damit Stirn und Nacken ab. »Na schön. Wenn du unbedingt darauf bestehst. Dein Großvater war Uhrmacher – alte Familientradition, wie er zu sagen pflegte. Ich habe ihn einmal in seiner Wohnung besucht. Es ist ein regelrechtes Uhrenmuseum, in jedem Raum tickt es. So sei es auch am Tag vor seinem Ableben gewesen, hatte mir Frau …« Sibelius blätterte hektisch in seinen Unterlagen. »Frau Erna Waczlawiak. Eine Nachbarin. Ich habe sie nach der Freigabe der Wohnung durch die Kriminalpolizei gesprochen. Sie schaute fast täglich bei deinem
Weitere Kostenlose Bücher