Der verbotene Turm
teilte mir mit, daß alle Manuskripte vernichtet wurden, als Neskaya im Zeitalter des Chaos niederbrannte. Ich bin zwar immer noch der Meinung, daß Callista zu uns zurückkehren sollte. Aber ich will dir sagen, daß es nur einen Weg gibt, zu entdecken, was für Callista getan werden kann. Damon, weißt du, was Zeitforschung ist?«
Damon hatte das Gefühl, der Stoff, aus dem die Überwelt bestand, bebe unter seinen Füßen und überflute ihn mit Kälte. »Ich habe gehört, daß auch diese Technik verloren gegangen ist.«
»Nein, das ist sie nicht, denn ich habe Zeitforschung betrieben«, berichtete Leonie. »Der Lauf eines Flusses hatte sich verändert, und Farmen und Dörfer in diesem Gebiet waren von Hungersnot durch entweder Trockenheit oder Überschwemmung bedroht. Durch Zeitforschung stellte ich fest, wie der Flußlauf vor hundert Jahren gewesen war, damit wir ihn zurückleiten konnten und keine Energie auf den Versuch verschwenden mußten, ihn ohne einen natürlichen Kanal fließen zu lassen. Es war nicht leicht.« Ihre Stimme klang dünn und ängstlich. »Und du müßtest weiter zurückgehen als ich damals. Du müßtest die Zeit vor dem Brand von Neskaya erreichen, die Zeit der Hastur-Aufstände, eine böse Zeit. Glaubst du, du kannst diese Ebene erreichen?«
Damon antwortete langsam: »Ich kann auf vielen Ebenen der Überwelt arbeiten. Natürlich gibt es andere, zu denen ich keinen Zugang habe. Ich weiß nicht, wie ich auf die eine Ebene gelangen soll, wo Zeitforschung betrieben werden kann.«
»Ich kann dich hinführen«, sagte Leonie. »Natürlich weißt du, daß die Überwelten nur eine Reihe von Übereinkünften sind. Hier in der grauen Welt ist es verhältnismäßig einfach, Körper zu visualisieren und mit Gedanken Landmarken zu erzeugen.« Sie wies auf die schimmernden Umrisse des Turms von Arilinn hinter ihnen. »Schwieriger ist es, die Wahrheit zu erkennen, und die Wahrheit ist, daß dein Geist ein zartes Gewebe von Unfaßbarkeiten darstellt, die sich in einem Reich der Abstraktionen bewegen. Das hast du natürlich schon während deines ersten Jahrs im Turm gelernt. Es ist möglich, daß die Überwelt der objektiven Realität des Universums näher ist als die stoffliche Welt, die man die Realität nennt. Doch selbst dort kann jeder gute Techniker Körper als Gewebe aus Atomen und wirbelnden Energien und Magnetfeldern sehen.«
Damon nickte. So war es.
»Es ist nicht leicht, deinen Geist weit genug von den Begriffen der realen Welt zu lösen, daß du von der Zeit, wie du sie kennst, frei wirst. Die Zeit selbst ist wahrscheinlich nichts anderes als ein Weg, die Realität zu strukturieren, damit unsere Gehirne sie begreifen können«, führte Leonie aus. »Wahrscheinlich erlebt man in der ultimaten Realität des Universums, an die unsere Erfahrungen Annäherungen sind, die Zeit nicht als Folge von Ereignissen, sondern Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft existieren als ein chaotisches Ganzes. Anders ist es auf den körperlichen Ebenen, zu denen natürlich auch die gehört, auf der wir uns jetzt befinden, diese Welt der Bilder, wo unsere Gedanken fortlaufend das erschaffen, was wir gern um uns sehen möchten. Auf den körperlichen Ebenen also finden wir es leichter, entlang einer persönlichen Sequenz zu reisen, von dem, was wir die Vergangenheit nennen, zur Gegenwart und weiter zur Zukunft. Aber in der Realität existiert wahrscheinlich sogar ein körperlicher Organismus in seiner Ganzheit gleichzeitig, und seine biologische Entwicklung vom Embryo zum Greisenalter und zum Tod ist nur eine weitere Dimension wie die Länge. Verwirre ich dich, Damon?«
»Nicht sehr. Sprich weiter.«
»Auf der Ebene der Zeitforschung verschwindet das Konzept eines linearen Fortschreitens in der Zeit völlig. Du mußt es für dich selbst erzeugen, damit du dich nicht in der chaotischen Realität verlierst, und du mußt dich irgendwie verankern, damit sich dein Körper nicht in den Schwingungen auflöst. Es ist, als wandere man mit verbundenen Augen durch einen Irrgarten. Alles in diesem Universum möchte ich lieber tun, als es noch einmal zu versuchen. Doch ich fürchte, nur durch Zeitforschung kannst du eine Antwort für Callista finden. Damon, mußt du das Risiko unbedingt eingehen?«
»Ich muß, Leonie. Ich habe Callista ein Versprechen gegeben.« Er wollte Leonie nichts über die extreme Situation mitteilen, in der er sein Versprechen gemacht, und auch nichts über die Todespein, die sie ertragen hatte, obwohl
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