Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
PROLOG
Alles ist möglich.
Das Allerschrecklichste und das Allerschönste.
Ein halbes Jahr kann das umschließen wie ein Ring. Ein halbes Jahr reicht aus, um das alles zu durchleben.
Massel und Schlamassel, Glück und Unglück, würde Mendel Laskarow gesagt haben, der Prinzipal des Jiddischen Theaters in Berlin, an dem ich gearbeitet habe. Der Vater meines toten Liebsten.
Alles ist möglich. Ich für mein Teil bin gerade bei dem Schrecklichen angelangt. Der Tod hat neben mir eingeschlagen wie ein Blitz, der in einen Baum fährt. Und mich, den anderen Baum, der daneben wuchs, mich hat er mit verletzt.
Verbrannt, verdorrt, erstorben. So fühle ich mich.
Ich taste nach dem Kragen meines Kleids. Er ist aufgeschnitten. Die Mutter des Ermordeten hat ihn mir zerschnitten mit ihrer Nagelschere, als Zeichen der Trauer. (Früher zerriss man den Saum seines Gewands ...)
Der Schnitt im Kragen. Meine Wunde, die nicht zuheilen darf. Sonst werde ich noch ganz und gar zu Stein vor Schmerz.
Ich sehe aus dem Fenster des Zugs. Bald bin ich da. Keine halbe Stunde noch.
Ich habe während der ganzen Fahrt aus meinem Koffer nichts weiter herausgeholt als die nötigsten Utensilien, Kamm und Bürste, Waschzeug. Ich habe mich in den Kleidern aufs Bett gelegt, obwohl ich in einem komfortablen Schafwagenabteil reise. Ich habe kein Buch hervorgezogen, gar nichts. Ich habe aus dem Fenster gestarrt, ohne etwas zu sehen, oder einfach bloß diese fahren den vier Wände angeglotzt.
Gern hätte ich die Reise einfach verschlafen, traumlos verschlafen.
Aber ich hatte etwas vergessen: ein Mittel, das mich hinüberbringt über die Passage zwischen Schlaf und Wachen.
Ich war müde. Todmüde war ich. Und dann, wenn mir die Augen zufielen, wenn ich hoffte, einfach in irgendwelche Tiefen abzutauchen, in Dunkelheiten, wo man nichts mehr fühlt, dann schreckte ich wieder auf. Dann war es wieder da. Alles. Alles, was ich erlebt hatte. –
Ich laufe mit meinem Geliebten durch die winterlichen Straßen Berlins. Wir gehen zur Probe; es schneit. Die Flocken bleiben auf seinem Haar liegen. Noch bin ich glücklich. Glücklich, mit ihm zusammen zu sein, glücklich, mit ihm bald wieder auf der Bühne zu stehen. Er ist mein Leben. Theater ist mein Leben. Er und das Theater zusammen sind Glück. Er, der Schauspieler, und ich, die Schauspielerin.
Und dann geht er hinter uns her. Er. Der Schatten, der Mann ohne Gesicht, der ihn seit Kurzem verfolgt. Weil jemand verhindern will, dass Schlomo, mein Geliebter, den Bar Kochba spielt, einen jüdischen Volkshelden. Jüdische Volkshelden sind im Moment nicht erwünscht ...
Schlomo stellt ihn. Er stellt sich ihm. Er sagt, er habe in »ein ganz normales Schweinehundgesicht« geblickt. Aber ich weiß es ja anders. Nicht besser, schlimmer weiß ich es. Ich weiß es längst aus meinen Träumen und Gesichten. Noch ehe die Pistole wirklich auf ihn gerichtet ist, lange davor, ist er schon im Visier. Die Anrufe, mit denen man uns quält. Die Briefe. Die Drohungen. Er soll nicht auftreten, der Jude Schlomo, er soll nicht Theater spielen.
»Es wird brennen!«, steht in dem Brief. Und er läuft los, um das für mich zu holen aus dem alten Theatermagazin, weswegen ich auf der Suche war. Das hohe Gut.
Ich warte auf ihn, auf seine Rückkehr. Ich zähle die Minuten. Es ist ein schöner Morgen, oh Gott, ja, es ist ein Morgen mit Sonne, glaube ich, mir ist so, wenn ich es wieder durchlebe. In meiner Brust dies Ziehen. Dann der andere Brief, die Warnung. Er soll nicht aus dem Haus gehen heute!
Ich laufe los, ihm hinterher.
Da endlich kommt er mir entgegen; hinter ihm schon Rauch und Feuer.
Und die Waffe, die ich gespürt hatte, die ihn die ganze Zeit schon bedroht hat, ist nun voll auf ihn gerichtet, und es wird abgedrückt. Schlomo Laskarow liegt in seinem Blut auf dem Pflaster der Straße ...
Wie lange ist das her? Zwei Wochen vielleicht? Oder war es gestern? Ich habe das Gefühl für die Zeit verloren. Bin durch die Straßen Berlins geirrt Tag für Tag, ohne etwas wahrzunehmen –
All das rast mir durch den Kopf, Bild auf Bild, wenn ich versuche einzuschlafen. Und um dieser Höllenqual zu entgehen, setze ich mich ganz schnell auf in meinem rollenden Quartier, mache das Licht wieder an, lausche dem Rumpeln der Räder. Werde wieder zu Stein.
Nur so kann ich es ertragen. Als steinernes Mädchen. Kann ein steinernes Mädchen je wieder Theater spielen? Was für eine Frage. Wenigstens das muss noch gehen ...
Aber so
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