Der verbotene Turm
jemals auf sexuelles Begehren reagieren konnte. All das war unwichtig. Es war ein Kuß so verzweifelter Liebe, wie er ihn keiner lebenden Frau je gegeben hatte oder geben würde. Leonies Bild zerfloß, und sie war wieder die jüngere Leonie, strahlend, keusch, unberührbar, die Leonie, nach deren Anblick er in vielen einsamen Jahren gehungert hatte, während er sich mit Schuldgefühlen über seine Sehnsucht quälte.
Dann wurde sie von neuem zu der Leonie von heute, ausgelaugt, erschöpft, von der Zeit verwüstet, und sie weinte mit einer Hoffnungslosigkeit, daß er meinte, ihm müsse das Herz brechen. »Geh jetzt, Damon«, flüsterte sie. »Komm nach Mittwinter zurück, und ich werde dich dahin führen, wo du in der Zeit nach Callistas Geschick und deinem eigenen suchen kannst. Aber wenn in dir noch eine Spur von Mitleid ist, dann geh jetzt!«
Die Überwelt erzitterte wie in einem Sturm, verschwand in der Gräue, und Damon fand sich in dem Zimmer zu Armida wieder. Callista betrachtete ihn besorgt. Ellemir fragte: »Damon, Liebster, warum weinst du?« Aber Damon wußte, er würde diese Frage nie beantworten.
Cassilda und alle Götter! Es war unnötig gewesen, all das Leiden, seins, Callistas, das der armen kleinen Hilary, Leonies. Und die mitleidvolle Avarra allein wußte, wie viele Leben, wie viele Telepathen in den Türmen der Domänen zum Leiden verurteilt waren …
Es wäre für die Comyn , für sie alle, besser gewesen, dachte Damon verzweifelt, wenn sich alle Söhne von Hastur und Cassilda im Zeitalter des Chaos mitsamt ihren Sternensteinen in die Luft gejagt hätten! Aber es mußte ein Ende gemacht werden, all diesem Leiden mußte ein Ende gemacht werden!
Er klammerte sich an Ellemir, und dann streckte er über sie hinweg Andrew und Callista die Hände entgegen. Es war nicht genug. Nichts würde je genug sein, um so viel Elend aus seinem Bewußtsein zu vertreiben. Aber solange sie alle dicht bei ihm waren, konnte er damit leben. Für den Augenblick. Vielleicht.
14
Dom Esteban hatte sie gebeten, die Psi-Arbeit zu verschieben, bis Mittwinter vorbei und die Reparatur der Sturmschäden erledigt waren. Damon war froh über die Ruhepause, wenn ihn auch andererseits das Verlangen, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, krank machte. Eine Menge hing vom Wetter ab. Wenn es wieder einen Sturm gab, würde das Mittwinterfest nur mit den Hausbewohnern gefeiert werden, aber war das Wetter gut, kamen alle Leute innerhalb eines Tagesritts Entfernung zu Gast, und viele würden über Nacht bleiben. Am Vorabend des Festes verkündete das Abendrot einen schönen Tag, und Damon sah, daß Dom Esteban bei der Aussicht darauf sichtlich aufblühte. Damon schämte sich seines eigenen Mangels an Begeisterung. In den Kilghardbergen bedeutete eine Unterbrechung der winterlichen Isolation viel, und besonders für einen alten Mann, der verkrüppelt und an seinen Rollstuhl gefesselt war. Beim Frühstück plauderte Ellemir vergnügt über die Pläne für das Fest und ging auf Dom Estebans Feiertagsstimmung ein.
»Die Küchenmädchen sollen Festkuchen backen, und einer der Männer muß ins Südtal hinunterreiten und den alten Yashri und seine Söhne für die Tanzmusik holen. Und wenn viele Leute über Nacht bleiben, müssen alle Gästezimmer geöffnet und gelüftet werden. Und ich fürchte, in der Kapelle ist es fürchterlich staubig und schmutzig. Ich bin nicht wieder dort unten gewesen, seit ich …« – Sie verstummte und blickte zur Seite, und Callista fiel schnell ein: »Ich werde mich um die Kapelle kümmern, Elli. Werden wir ein Feuer anzünden?« Sie blickte zu ihrem Vater hin, und Dom Esteban meinte: »Ich halte ein Sonnwendfeuer in der heutigen Zeit für töricht.« Er sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu Andrew hin, als erwarte er, der jüngere Mann werde sich über den Brauch lustig machen. Aber Andrew erklärte: »Es scheint auf den meisten Welten ein universeller Brauch der Menschheit zu sein, die Rückkehr der Sonne nach der längsten Nacht mit einem Mittwinterfest zu feiern, Sir, und daneben gibt es auch Mittsommerfeste für den längsten Tag.«
Damon hatte sich nie für einen sentimentalen Mann gehalten, denn er hatte sich hart gemacht, um die Vergangenheit zu begraben. Doch nun erinnerte er sich an all die Winter, die er auf Armida als Coryns Freund verbracht hatte. Beim Mittwinterfest pflegte er neben Coryn zu stehen, und sämtliche kleinen Mädchen scharten sich um sie. Wenn er je eine eigene
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