Der vergessene Strand
Hand und drehte das Gesicht von ihm weg, weil sie es einfach nicht ertrug, ihn da in der Küchentür stehen zu sehen. Er verstummte sofort.
«Jetzt setz dich erst mal hin, Michael.» Ihre Mutter flatterte in die Küche und rückte ihm einen Stuhl zurecht. «Hier, ich hole dir ein Gedeck. Möchtest du ein gekochtes Ei? Ich geb dir meins.»
Warum?
, fragte Amelie mit flehendem Blick ihre Mutter.
Wieso holst du ihn her?
«Ach, schon so spät. Kinder, ich muss los. Aber ihr vertragt euch ja, nicht?» Der mahnende Blick galt vor allem Amelie. «Dann wird schon alles wieder gut.» Mama drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Amelie verzog das Gesicht. Dann fiel die Wohnungstür ins Schloss. Die Kaffeemaschine gurgelte und schnaubte.
«Da sind wir also.» Er räusperte sich.
Amelie blickte auf. Gott, wie sehr sie ihn hassen wollte! Er saß da am perfekten Frühstückstisch, mit dem perfekt gebügelten Hemd und der perfekten Bügelfalte in der Hose. Perfekt, perfekt, perfekt. Dieses Lächeln! Sie hatte vergessen, wie sehr sie sich immer einen Mann wie ihn gewünscht hatte. Einen, der ihr Sicherheit schenkte, der sie heiratete, mit ihr eine Familie gründete. Der sie glücklich machte.
Vier Jahre ließen sich nicht so einfach vom Tisch wischen. Sie konnte nicht abends das gemeinsame Haus verlassen, und am nächsten Morgen war der Schmerz vorbei.
Vor allem schmerzte, wie sehr sie ihn in diesen wenigen Stunden vermisst hatte.
«Willst du jetzt die Geschichte hören?», fragte er leise.
«Würde es denn was ändern?»
Vor vier Monaten hatte sie nichts hören wollen. Damals hatte sie ihn angefleht, nicht zu viel zu erzählen. Sie wollte nicht, dass die Andere ein Gesicht bekam.
Ihr genügte der Name.
«Ich hoffe, du verstehst mich dann …»
Sie schwiegen. Amelie konnte auf diese Frage unmöglich eine Antwort geben, und Michael wartete. Er war jetzt so rücksichtsvoll. Viel rücksichtsvoller als sonst.
«Sie … Du weißt ja, sie ist bei uns am Institut, seit einem Jahr.»
Amelie nickte, obwohl die Details über Sabina sie überhaupt nicht interessierten. Sie war die Andere, das genügte.
«In ihrer Doktorarbeit geht es um … Ach, das ist ja nicht so wichtig. Es war vorbei, Amelie. Nachdem sie dir diese Fotos zugespielt hatte, war es wirklich sofort vorbei. Aber vor knapp zwei Monaten …» Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. «Da kam sie zu mir. Sie war völlig aufgelöst, sie wusste nicht, was sie tun sollte. Hätte ich sie zu einer Abtreibung überreden sollen? Wäre dir dann jetzt wohler?»
«Du widerst mich so an», flüsterte sie.
«Ich wollte das nicht, Amelie.»
Aber sie wollte auch nicht. Nicht zuhören, nicht daran glauben, dass sich alles änderte, dass er sich besserte.
Sie wollte nur noch weg.
«Wenn’s doch so ist …» Er breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus. «Bitte, Amelie, glaub mir, ich wollte nie … Ich will dich nicht verlassen. Für mich bist du die Richtige. Ich will dich heiraten. Mit dir eine Familie gründen.»
«Dumm nur, dass das alles bisher nicht so geklappt hat, wie du’s dir vorgestellt hast», erwiderte sie bitter. «Da hältst du dir eben eine Mätresse, die dir auch bald schon das Familienglück bietet, das ich dir ja nicht geben kann.»
«Am, bitte …» Michael rückte näher und wollte ihre Hand nehmen. Sie entzog sich ihm.
«Nicht.»
Er ließ die Hände sinken. Seine blauen Augen musterten sie prüfend, fast flehend. «Du kannst doch nicht einfach gehen», flüsterte er.
«Danke, ich hab genug gehört.» Das Schlimmste war, dass sie jetzt, nachdem sie den Brief bekommen hatte, in seinem Gesicht ganz genau die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden vermochte. Wie eine unterschwellige Stimme, die sie zuvor einfach nicht gehört hatte. Nicht hatte hören wollen.
Und diese Stimme flüsterte ihr gerade ins Ohr, dass er gar nicht daran dachte, die Frau im Stich zu lassen, die sein Kind erwartete.
Die Andere.
Sie stand abrupt auf und ging ins Gästezimmer. Begann, die Sachen wieder in die Reisetasche zu stopfen, schüttelte das Bett auf und legte das Notebook zurück in die Laptoptasche. Michael folgte ihr. Schweigend stand er in der Tür.
Erst als sie sich aufs Bett setzte und die Stiefel anzog, begann er zu sprechen.
«Wir kamen uns vor einem halben Jahr näher, als du und ich … na ja, als wir unsere Differenzen hatten.»
Differenzen. So nannte er das also. Nach einem halben Jahr, in dem sie vergeblich versucht hatten,
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