Der vergessene Strand
Stunden zuvor hatte sie erfahren, was er von ihr verlangte. Und während sie ihn noch immer abgöttisch liebte, spürte sie den Schmerz zwischen ihren Schenkeln.
Er hatte sie stürmisch in Besitz genommen, hatte ihren Widerstand hinweggefegt mit heftigen Küssen, mit groben Händen und einer Gewalt, die sie im ersten Moment erschreckte. Seine Hand hatte ihre Schreie erstickt, und als er in ihr war, küsste er sie so sanft, dass aus den Tränen, die sie aus Angst und Schmerz vergoss, rasch Freudentränen wurden. Sie lernte, was Begehren war, aber sie musste es nach seinen Regeln lernen, und das war es, was sie verstörte.
Dieser Mann nahm sich, was er wollte. Er fragte nicht.
Sie beschlich das Gefühl, sich verrannt zu haben in eine Liebe, die zu viel verlangte und zu wenig gab. Doch jetzt war es zu spät. Zurück konnte sie nicht, und sie lächelte tapfer jeden an, der ihr gratulierte. Das Bouquet aus Veilchen und weißen Rosen schien ihr plötzlich so unpassend. Sie war nicht mehr unschuldig. Henry hatte die Blumen für sie ausgewählt.
Ihre Ehe begann also früher als von ihrer Mutter geplant, und als diese Beatrix am Hochzeitstag diskret beiseite nahm, um ihr in aller Eile zu erklären, was da zwischen Mann und Frau war, konnte sie nur lächeln. Sie wusste ja, wie es ging.
Sie redete sich damit heraus, dass sie vor der Hochzeit nervös sei und sich deshalb ständig übergeben müsse. Ihre Mutter, die von Henry nur Gutes glaubte und gar nicht auf die Idee gekommen wäre, dass er sich mit ihrer Tochter schon vorher mehr als einmal vergnügt hatte – und ein Vergnügen war es, das hatte Beatrix inzwischen gelernt –, fügte noch hinzu, dass es gar nicht schlimm sei. Und es sei auch bald vorbei, denn während ihrer Schwangerschaft werde Beatrix bestimmt von ihm in Ruhe gelassen, so habe es ihr Vater damals auch gehalten.
[zur Inhaltsübersicht]
Kapitel 3
A m ersten Tag kam sie nicht weit. Bis Calais hatte sie fahren wollen, um am nächsten Morgen den Zug durch den Eurotunnel zu nehmen. In Antwerpen wurde es schon dunkel. Nach kurzem Überlegen suchte sie sich ein kleines Hotel. Sie fuhr nicht gern im Dunkeln, dafür waren ihre Augen wohl einfach zu schlecht. Ohne Kontaktlinsen war alles jenseits einer Dreißig-Zentimeter-Grenze nur ein verschwommener Flickenteppich. Bei längeren Autofahrten wurde sie deshalb schnell müde.
Aber sie hatte ja alle Zeit der Welt.
Man gab ihr ein Doppelzimmer zum Preis eines Einzelzimmers. Die Straße herunter gab es ein paar Restaurants und kleine Cafés, aber sie packte erst ihre Sachen aus, ehe sie in eines der Restaurants ging und zu Abend aß.
Sie spürte die Blicke der Menschen, vor allem die der Männer, die allein unterwegs waren.
Sah sie etwa aus wie eine Frau, die nicht allein sein wollte?
Sie aß ihre die Suppe hastig, bezahlte und verließ fluchtartig das Restaurant. Dann verkroch sie sich in ihrem Hotelzimmer. Nachdem sie etwa zwanzig Minuten durch die Fernsehkanäle gezappt hatte, ohne irgendwas zu finden, das sie auch nur annähernd interessierte, packte sie das Notebook aus und fuhr es hoch. Sie lud die aktuelle Manuskriptdatei und holte den Collegeblock mit ihren Notizen aus der Tasche.
Das Buch, an dem sie im Moment schrieb, forderte sie. Es hatte lange gedauert, bis sie sich auf ein Thema hatte festlegen können. Die Lektorin des Verlags, mit der sie ausgiebig über die thematische Ausrichtung diskutiert hatte, war bei ihrem ersten Vorschlag, eine Reihe Frauenporträts von der Antike bis zur Gegenwart nebeneinanderzustellen und zu vergleichen, nicht besonders begeistert gewesen.
Darum hatten sie sich schließlich darauf geeinigt, dass Amelie die Biographie über eine der vielen Frauen schrieb, für die sie sich interessierte. Ihre Wahl war auf Beatrix Lambton gefallen, die Frau eines Earls von Hartford, die Ende des 19 . Jahrhunderts gelebt hatte. Ihre Briefe und anderen Schriften übten auf Amelie seit langem eine unglaubliche Faszination aus.
Sie wollte beweisen, dass die Countess von Hartford sehr viel freier und selbstbestimmter hatte leben dürfen, als man es gemeinhin für die adeligen Frauen Ende des 19 . Jahrhunderts angenommen hatte.
Amelie sortierte ihre Unterlagen und begann, den Abschnitt zu lesen, den sie gestern Abend geschrieben hatte, während sie auf Michael wartete. Aber immer wieder blickte sie auf und startete das Mailprogramm.
Sie vermisste ihn.
Immer wieder fragte sie sich, ob er sie auch vermisste. Ob er sie nur deshalb
Weitere Kostenlose Bücher