Der vergessene Strand
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Kapitel 1
D ie Post kam immer sehr früh. Manchmal so früh, dass Amelie noch in Schlaf-T-Shirt und Bademantel in der Küche saß und den ersten Kaffee trank, wenn die Briefe durch den Briefschlitz rutschten und auf die Fußmatte darunter polterten.
Sie hatte Michael schon tausendmal gesagt, er solle endlich einen richtigen Briefkasten anbringen, draußen an der Fassade. Aber er hatte immer widersprochen, weil er den Charme der Altbauvilla nicht durch einen schnöden Briefkasten kaputt machen wollte. Eselsohren an Briefen oder zerknickte Zeitschriften waren für ihn kein Argument.
Es war nur einer von vielen kleinen Streitpunkten zwischen ihnen. Zärtliche, frotzelnde Sticheleien, die ihr immer wieder aufs Neue ein warmes Gefühl in den Bauch zauberten.
Zumindest war es bis vor vier Monaten so gewesen. Seitdem war alles anders. Nicht unbedingt schlechter, aber sie hatten die Leichtigkeit verloren.
Sie seufzte und ließ die Post auf der Fußmatte liegen.
Das Nächste, was sie hörte, waren polternde Schritte auf der Treppe. «Die Post ist schon da!», rief Michael.
«Ich weiß!», rief sie zurück.
Er trat mit dem Stapel in die Küche. Sie blickte auf und musterte ihn überrascht. Er trug einen hellgrauen Anzug, den er immer seinen «Bankanzug» nannte. Nur für Termine beim Scheidungsanwalt und bei der Hausbank holte er ihn aus dem Schrank.
«So schick heute?», fragte sie.
«Ja, da ist doch diese Institutssitzung heute Nachmittag. Wichtige Sache. Wird leider später. Komme so gegen acht, okay?» Zerstreut legte er die Briefe mitten in das Krümeldesaster, das er mit nur zwei Toasts angerichtet hatte, und küsste sie auf den Scheitel.
«Ich wollte ohnehin in die Bibliothek.»
«Ah ja. Kommst du voran?»
Die Frage hasste Amelie mehr als jede andere. «Du weißt, dass man das Vorankommen bei einem Buch nicht mit Seitenzahlen messen kann.»
«Natürlich nicht, entschuldige. Aber du wirst doch wissen, ob es vorangeht.»
Sie schwieg verbissen.
Er nahm ihre Kaffeetasse, trank und verzog angewidert das Gesicht. «Dass du ihn auch immer süßen musst …»
Sie stellte sich vor ihn und begann, ihm die Krawatte zu binden. «Ich mecker ja auch nicht über deinen Toast mit Salami, also lass du mir den süßen, starken Kaffee und mein Porridge.»
Er schnaubte ungehalten. «Porridge. Ehrlich, Am, du leidest unter Geschmacksverwirrung.»
«Und du hast in den 47 Jahren deines bisherigen Lebens noch immer nicht gelernt, eine Krawatte zu binden», schalt sie ihn zärtlich.
Irgendwie brachte er es immer fertig, dass sie ihm nicht böse war. Sobald er weg war, würde sie die Krümel vom Tisch fegen.
«Warum auch? Bisher hat das Ruth gemacht. Und jetzt habe ich ja dich.» Er legte die Arme um sie und küsste sie auf den Mund. «Wünsch mir Glück, dass ich meinen Etat bekomme.»
«Viel Erfolg. Du schaffst das!» Sie erwiderte den Kuss, und er zog sie noch einmal an sich. Amelie lachte leise. «Du kommst zu spät», flüsterte sie zwischen zwei Küssen.
«Mir doch egal», erwiderte er. Widerstrebend ließ er sie los. «Bis heute Abend!»
Die Haustür fiel ins Schloss, und sie war allein in dem großen Haus. Sie löffelte ihr Porridge, las die SZ auf dem iPad fertig, räumte dann ihr Geschirr – und Michaels, das er natürlich vergessen hatte – in die Spülmaschine und wischte die Krümel vom Tisch.
Dann ging sie ins Gartenzimmer an den Computer.
Seit sieben Monaten arbeitete sie nun am Buch. Seit sieben Monaten war der Weg vom Frühstückstisch zum Schreibtisch der weiteste, und seit sieben Monaten musste sie sich jeden Morgen dazu zwingen, ihn zu gehen. Jedes Mal, wenn sie die Bücherstapel sah, den Haufen Ausdrucke aus Zeitschriften links und rechts neben ihrem Stuhl verließ sie für einen Augenblick der Mut. Dann glaubte sie, es werde ihr nie gelingen, dieses Buch zu schreiben.
Beatrix Lambton war eine freie, unabhängige Adelige im 19 . Jahrhundert gewesen, verheiratet mit einem Earl, gesegnet mit einer großen Kinderschar. Dennoch hatte sie ihr Betätigungsfeld nie allein auf Kinderzimmer, Küche und Kirche beschränkt. Ihre literarischen Salons waren legendär, und sie hatte sich sogar irgendwann von ihrem Mann emanzipiert, der ein notorischer Fremdgeher gewesen sein musste. Das war für die damalige Zeit und seinen Stand nicht ungewöhnlich, Beatrix beschwerte sich in keinem ihrer Briefe darüber. Sie ertrug es, obwohl sie ihren Mann liebte.
Wie viel Kraft das Beatrix
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