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Der vergessene Turm: Roman (German Edition)

Der vergessene Turm: Roman (German Edition)

Titel: Der vergessene Turm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert M. Talmar
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überdeckt.
    Viel zu schnell erreichten sie den Lesesaal, in dem ein langer und breiter Tisch und reihum Stühle standen. Ein Kaminfeuer beleuchtete und erwärmte den Raum, sieben oder acht Schritte entfernt. An der Wand gegenüber gab es eine weitere Tür; es musste die sein, die in die Abteilung der kostbaren Sammlung führte.
    Bis hierher war Finn bei seinen früheren Besuchen nie vorgedrungen, und ein ehrfürchtiger Schauer lief über seinen Rücken,als er an die Schätze dachte, die jenseits der kunstvoll geschnitzten und mit prächtigen Scharnieren geschmückten Tür warteten. An den Stirnseiten des Tisches gingen jeweils vier Fenster auf den Marktplatz und ebenso viele auf den Innengarten mit der Linde hinaus. Die Dämmerung sank jetzt rasch hernieder, und als sei das Schwinden von Licht ein Zeichen, fand sich Finn plötzlich in der Gegenwart wieder   – ein verunsicherter Vahit, der jäh spürte, wie die Welt, die er kannte, dabei war, sich in etwas Unvorhersehbares und Gefährliches zu verwandeln.
    Rund um den Tisch blickten ihnen neun Vahits erwartungsvoll entgegen.
    Es gab Geraune, als Circendil sich unter dem niedrigen Türsturz bückte und wieder zu seiner vollen Größe aufrichtete; Ludowig schloss die Tür und wies den Neuankömmlingen Plätze zu. Er selbst setzte sich an das freie rechte Ende des langen Tisches und übernahm den Vorsitz, wie es ihm als Hausherr und Witamáhir gebührte. Diesmal war es ein Hocker, den irgendjemand eilig herbeigeschafft hatte und auf dem Circendil sich niederließ. Er blickte in ebenso erschrockene wie sprachlose Gesichter, die ihn über den Tisch hinweg anstarrten.
    Ludowig räusperte sich; dann begrüßte er die Anwesenden, dankte allen für ihr Erscheinen und nannte der Reihe nach ihre Namen. Aus dem Augenwinkel sah Finn, wie sich Circendil bei jedem Namen im Sitzen leicht verneigte; eine Höflichkeit, die zögernd (aber nicht von jedem) erwidert wurde.
    Finn kannte nicht alle Gesichter. Am meisten überrascht war er vom Anblick einer jungen Frau, die fast noch ein Mädchen war. Sie blätterte in einem dicken Amtstagebuch, das vor ihr lag, daneben warteten griffbereit Feder und Tintenfass. Sie saß ihm gegenüber neben einer älteren Vahitfrau. Er glaubte nicht, dass er die beiden je zuvor gesehen hatte. Ludowig stellte die ältere als Frau Amagata Zeisig vor; und jetzt erkannte sie Finn   – sie war die Nande Criatharir , die Klärerin des Obergaus. In der Vergangenheit hattees einigen Verdruss gegeben in Furgos Dauerstreit mit den Muldweiler-Fokklins, die in schönster Regelmäßigkeit die Rechtmäßigkeit seines Erbes anfochten. Frau Amagata war die unverheiratete Schwester Dúncan Zeisigs aus Vierstraß (dem Vater von Dharso) und obendrein eine Kusine ersten oder zweiten Grades der Brüder Konkho und Abbado. Sie saß damit zwischen allen Stühlen, aber bisher hatte sie stets im Sinne der Moorreet-Fokklins entschieden.
    Die jüngere der beiden Frauen hieß Tallia Goldammer. Sie war Schrifferin und ging bei der Klärerin in die Lehre. Sie besaß ein ebenmäßiges Gesicht, in dem große, braune Augen und volle Lippen den Blick auf sich zogen. Darüber kräuselte sich blondes Haar, ein Merkmal ihrer Flakenfamilie: Die Goldammers aus dem Weberviertel waren in ganz Mechellinde für ihre hellen Schöpfe berühmt. Das in ihrem Rücken brennende Feuer des Kamins ließ ihr Haar glänzen wie Gold, das vom Scheitel floss und über die Schultern rann. Finn bemerkte, dass Tallia und er die beiden jüngsten Vahits im Lesesaal waren, und er vermisste Mellow, den er nirgends erblicken konnte. Tallia lächelte ihm zu, und Finn lächelte scheu zurück; einen Augenblick später war er sich sicher, glutrote Wangen zu bekommen. Er wich ihrem Blick aus, obwohl er es gar nicht wollte. Ärgerlich über sich selbst starrte er vor sich hin   – und übersah so den Anflug von Belustigung, der über ihr Gesicht lief und sich unter ihren vorfallenden, dichten Locken versteckte.
    Finn saß neben Circendil, der zur Rechten des Witamáhirs auf seinem Schemel hockte. Ludowig zunächst und damit Circendil gegenüber kauerte die Klärerin in vorgebeugter Haltung auf der vorderen Kante ihres Stuhls; sie nagte ungeduldig an ihrer Oberlippe. Ihr zur Seite folgte Tallia. Neben der jungen Schrifferin, die nun auf einen Wink der Klärerin hin zur Feder griff, hatte Wosto Keubler Platz genommen, der Staubner der Bücherey, der für den Erhalt und die Pflege besonders der alten Bücher verantwortlich

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