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Der vergessene Turm: Roman (German Edition)

Der vergessene Turm: Roman (German Edition)

Titel: Der vergessene Turm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert M. Talmar
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seufzte, wohl in Gedanken an einen Feierabendhumpen, der nun mit jedem Schritt in weitere Ferne geriet.
    Als sie die eigentliche Bücherey betraten, erblickten sie hinter Scheibentüren hohe Regale in langen Reihen. Die Bücherborde warteten im Halbdunkel, in dem tausende und noch mehr Buchrücken sich eng aneinanderdrückten; gern hätte Finn hier ein oder zwei Augenblicke länger verweilt, doch Ludowig beschleunigte seine Schritte, führte sie zu einer Treppe und hinauf in das obere Stockwerk. Hier oben, sagte er, fänden sich im hinteren Teil die wirklich kostbaren Sammlungen, die Geretteten Bücher : seltene Handschriften, in dickes Leder gebunden und wenigstens siebenhundert Jahre alt, von denen es oft nur noch eine einzige gab; ferner Schriftrollen, Pergamente, Briefe, sogar Landkarten   – uralte, ältere und neuere. Einige zeigten gänzlich fremde Küsten und Gebirge mit Flüssen, die keiner mehr kannte, andere gaben die vertrauten Gegenden des Hüggellands wieder; manches war mit zusätzlichen Erläuterungen versehen über den Verfasser. All diese Schätze waren ohne Ausnahme in schweren Schränken mit fest schließenden Türen verwahrt, die Schutz vor Mäusen und Feuchtigkeit boten.
    Daneben gäbe es, so sagte Ludowig, im vorderen Teil die in der Colpia angefertigten Abschriften jüngeren Datums, nicht weniger schön und oftmals reichhaltiger verziert als die ursprünglichen Werke. Gewissenhafte Anmerkungen gaben Auskunft darüber, von wem sie abgeschrieben worden waren oder wer welches Werk um welche Beigaben ergänzt hatte. Jene Bücher wurden benutzt, wenn es galt, etwas nachzuschlagen. Die ursprünglichen Quellen wurden dagegen geschont, wo immer es ging; allenfalls behutsam angefasst   – wenn überhaupt   – und nur zum Zweck einer neuerlichen Abschrift oder zur Pflege hervorgezogen.
    Der Lesesaal trennte beide Abteilungen; und gedämpften Schrittes gingen sie an einer Vielzahl von gleichförmigen Schränken entlang, die in ausgerichteten Reihen einen breiteren Gang in der Mitte säumten. Fenster erstreckten sich zu beiden Seiten, und unwillkürlich warf Finn einen Blick nach rechts über den Marktplatz hinaus, ob er über ihm Vögel kreisen sähe. Er sah welche, doch es waren nur Tauben, die vom Brunnen aufflatterten, als ein zweirädriger Karren von der Mürmelbrücke herunterholperte und in die tiefen Schatten der Korbmacherstraße bog.
    Während sie durch die Buogga gingen, sog Finn tief die Luft ein, um sich nur ja nicht den Duft der Jahrhunderte entgehen zu lassen, den Schränke, Mauern und das Holz der Decke verströmten. Es roch, wie es nur in einer Bücherey riechen konnte und nirgendwo sonst auf der Welt.
    Für Finn war es der schönste Wohlgeruch überhaupt in Kringerde: Es war diese ganz besondere Mischung, die zunächst nur aus reinem Bücherstaub zu bestehen schien, unter dem aber hier und da eine Spur von Lederöl zu ahnen war, und wo nicht das, so zumindest eine leichte Note von Gerbsäure im Leder an sich. Altes Leder verströmte nämlich nicht nur den Geruch seiner selbst, sondern auch einen Hauch all dessen, dem es ausgesetzt war während der Zeit, da es als Buchrücken in der Hand eines Lesers gehalten worden war. Mochte der nun geschwitzt oder gefröstelt, ein Kräuterbad genommen oder sich gesalbt haben. Jeder dieser Düfte war tief in das Leder eingedrungen, und mehr noch: Tee war in seiner Gegenwart getrunken, Pfeifen geschmaucht, Wein verkostet und Bier verschüttet worden. Bratäpfel und Pflaumenkuchen, Bratkartoffeln mit Zwiebeln, Erbsensuppe und Kohl waren an seiner Seite gegessen worden, und ihre Wohlgerüche und Ausdünstungen hatten es umweht wie tausend andere Küchendüfte. Holzkohlenrauch und Kaminasche hatten ihren unverwechselbaren Anteil dazugegeben; und er hatte sich nicht nur in das Leder, sondern auch in das Papier gesetzt, das selbst nach Leim und Holz duftete und nach der Tinte, die es Seite um Seite bedeckte. Und fast jenseits aller Wahrnehmung lag ein harziger Atem ebenso dünn in der Luft wie die fast verwehten und vom Papier beinahe vergessenen Erinnerungen: an Bleichmittel, Sägestaub, Fichtennadeln und entrindete Äste. Tief sog Finn all das, was er zu spüren glaubte, in sich hinein, und für einen Moment schienen Gidrogs und Criargs nicht mehr zu sein als eine ferne Erinnerung oder der blasse Schatten eines Erlebnisses, das er als kleines Kind gehabt hatte   – voller Schrecken, gewiss, aber durch glücklichere Tage, die folgten,

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