Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
eines Tages …«
»Halt ein«, lachte Mellow. »Ich hab’s ja verstanden. Und ich werde mich hüten, einen neuen Vorschlag zu machen. Fang einfach an. Mittendrin. Wo es dir Spaß macht.«
» Einfach und spaßig? Es ist weder das eine noch das andere. Die Zusammenhänge sind verworren. Ich durchschaue sie selbst nur zum Teil. Und alles dreht sich um das größte Übel, das je in Kringerde umging.«
»Das größte Übel? Was soll das denn bitte sein?« Finn runzelte die Stirn. Er dachte an Saisárasar und fragte sich, welches Übel größer sein mochte als dieser. »Und lass dir Zeit. Bis Mechellinde sind es noch mehr als zwölf oder dreizehn Meilen.«
Der Davenamönch seufzte. »Na schön. Aber ich warne euch: Es ist eine lange Geschichte, selbst wenn sie kurz erzählt wird. Seid ihr mit der Rechnung der Zeitalter vertraut?«
»Ehrlich gesagt, nein«, antwortete Mellow. Und zog sofort eine Grimasse, als Finn auf seinen zusammengelegten Händen die Geste des seligen Schlafens machte.
»Haha, lach du nur, dabei lag es überhaupt nicht an mir«, verteidigte er sich. »Es lag allein an Herrn Ludowigs Stimme, damit du’s nur weißt. Er kann sowohl lang wie auch weilig klingen, ohne Frage, aber meistens klang er im Unterricht so entsetzlich langweilig, dass mein Kopf von ganz allein niedersank. Ich bin völlig unschuldig. Und ich wette, du weißt auch nicht viel über das Alter der Zeit, Herr Streber!«
»Das ist wahr, zumal Herr Circendil nach Zeitaltern fragte und nicht nach dem Alter der Zeit. Aber Mellow hat Recht«, wandte er sich an den Medhir, »allzu viel über die Zeitalter erinnere ich auch nicht. Es gibt ihrer drei, nicht wahr?«
»So ist es überliefert«, nickte Circendil. »Wir in unseren Tagen leben im Dritten Zeitalter, das mit der Gründung der Drei Königreiche Arelian, Revinore und Vindland seinen Anfang nahm. Es währt jetzt über 700 Jahre.
Das Zweite Zeitalter überdauerte stolze 902 Jahre und bezeichnet die Zeitspanne von der Gründung des Reiches Benutcane bis zu seinem Untergang. Deutlich länger hingegen währte das Erste Zeitalter, nämlich fast so lang wie das Zweite und Dritte zusammen: 1598 Jahre zogen damals über Kringerde dahin. Das sind wahrlich Spannen, die uns unwirklich erscheinen. Rechnen wir sie zusammen! Wie kann etwas, das vor gut 3200 Jahren begann, uns heute noch berühren?«
Er sah die beiden Vahits bedeutsam an.
»Frag mich nicht«, wehrte Mellow mit erhobenen Händen ab. »Ich habe schon vorhin bei meinem toten Urgroßvater aufgehört zu verstehen, was du eigentlich von uns willst.«
»Nicht von euch, Mellow, auch nicht von deinem Urgroßvater, Aman habe ihn selig! Mir geht es um das schriftlich hinterlassene Erbe jener Menschen, die einst aufschrieben, woran sie sich noch aus jenen frühen Zeitaltern erinnerten. Derartige Bücher gibt es bei uns doch nicht mehr. Nur noch hier im Hüggelland. Und das auch nur vielleicht. Doch lass uns vorerst noch bei den Zeitaltern bleiben.
In jenem weit zurückliegenden Ersten Zeitalter, das über Kringerde hinwegzog, erschien einer, vom dem gesagt ward, dass er fremd sei, fremder als alles, was ihr euch nur im Entferntesten vorstellen könnt. Es heißt, er sei hierher verbannt worden. Von wem und warum? Ich weiß es nicht.
Doch sein Name ist überliefert: Lukather . Er ist nicht von dieser Welt, aber er ist in ihr gefangen. All sein Hass, seine Wut und seine Bosheit richten sich seitdem auf jene, die ihm den Rückweg verwehrten, und sein Groll wuchs. Heute noch wächst sein Zorn täglich, heute sogar mehr denn je – denn er lebt außerhalb aller Sterblichkeit.«
»Wie meinst du das – er stirbt nicht?«, fragte Mellow. »So wie im Märchen die Feen unsterblich sind?«
»Ah, Feen«, sagte Circendil erstaunt und lauschte dem Wort nach. »Feen nennt ihr sie? Und ihr denkt, sie seien Gestalten aus einem Märchen?«
»Aus vielen Märchen«, verbesserte Mellow den Mönch. »Es gibt eine Reihe von Geschichten über die Feen.«
»Und manche mögen einen Kern von Wahrheit in sich tragen«, sagte Circendil. »Nimm nur euch selbst als Beispiel. In Vindland berichtet ein Märchenbuch über euch als Wesen, die in Höhlen hausen und dort Bücher wie Schätze horten. Aber ist es nicht wahr, dass ihr Bücher hortet, um den Ausdruck zu gebrauchen? Nicht in Höhlen, gewiss, aber in Büchereyen? Und ist nicht ein Meister der Buoggagilde einer der Sieben, die eure Anführer sind?
So verhält es sich auch mit der Unsterblichkeit.
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